Tödliche Polizeischüsse in Dortmund: „Milde Mittel nicht ausgeschöpft“
Nachdem gegen weitere Polizisten wegen der Schüsse in Dortmund ermittelt wird, fordert die SPD eine Sondersitzung. Der Schütze ist suspendiert.
BERLIN taz | Nach der Ausweitung der Ermittlungen im Fall der tödlichen Polizeischüsse von Dortmund hat die SPD eine Sondersitzung des Rechtsausschusses im Landtag beantragt. Es gebe „eine neue Lage in diesem ohnehin schon dramatischen Fall“, erklärte Innenexpertin Christina Kampmann. Diese müsse umgehend politisch aufgearbeitet werden. Auch die Grünen forderten eine „konsequente Aufklärung“ ein. Innenminister Herbert Reul (CDU) sprach ebenso von einer „neuen Lage“.
Am 8. August war der 16-jährige Mouhamed D. von einem Polizisten erschossen worden, nachdem ein Betreuer seiner Jugendhilfeeinrichtung die Polizei wegen Suizidgefahr gerufen hatte. Der senegalesische Geflüchtete hatte sich im Innenhof seiner Wohngruppe ein Messer an den Bauch gehalten. Nachdem er auf Ansprachen nicht reagierte, wurde D. mit Pfefferspray und zweimal mit einem Taser beschossen. Als er sich darauf auf die Polizist:innen zubewegte, feuerte ein Beamter mit einer Maschinenpistole auf ihn, vier Projektile trafen. Mouhamed D. verstarb im Krankenhaus.
Durch einen neuen Ermittlungsbericht, den das Innenministerium dem Landtag übermittelte, wurde publik, dass gegen den Polizeischützen nun auch der Vorwurf des Totschlags geprüft wird. Bisher wird gegen ihn wegen Körperverletzung mit Todesfolge ermittelt. Zudem wird inzwischen gegen drei weitere Beamte, die das Pfefferspray und den Taser einsetzten, wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt ermittelt. Gegen den Einsatzleiter, der dies anordnete, läuft ein Verfahren wegen Anstiftung zu gefährlicher Körperverletzung im Amt.
Erst nach dem Pfefferspray-Einsatz ging D. auf Beamte zu
Carsten Dombert von der Staatsanwaltschaft Dortmund sagte am Freitag der taz, viel spreche dafür, dass die Polizeibeamten „nicht alle milden Mittel ausgeschöpft“ hätten, als sie anfangs auf Mouhamed D. zugingen. Erst nach dem Einsatz des Pfeffersprays habe sich der 16-Jährige auf die Beamten zubewegt. Ob er dies auch noch nach dem Taser-Einsatz tat, ist laut Ermittlungsbericht bisher ungeklärt. Demnach schloss sich beim ersten Taser-Beschuss kein Stromkreis, beim zweiten sei es nur zu einer „Schmerzwirkung“ gekommen.
Dombert und auch Innenminister Reul betonten, dass es weiterhin um einen Anfangsverdacht gehe. Ausgewertet werde etwa noch ein aufgezeichneter Notruf, den der Betreuer während des gesamten Einsatzes mit der Polizei führte und auf dem etwa Knallgeräusche zu hören seien. Die zwölf beteiligten Polizisten selbst hatten ihre Bodycams allesamt ausgeschaltet.
Der Polizeischütze ist inzwischen vorläufig vom Dienst suspendiert. Auch gegen die vier anderen Beamten, gegen die ermittelt wird, wurden laut der Polizei Dortmund dienstrechtliche Schritte eingeleitet, sie wurden versetzt.
Leser*innenkommentare
HAHABerlin
"gegen drei weitere Beamte, die das Pfefferspray und den Taser einsetzten, wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt ermittelt."
Sind das nicht legale Mittel zur Gefahrenabwehr? Gab es die Notfallsituation überhaupt? UND: Haben Polizisten keine Nahkampfausbildung? UND: 8 der Polizisten haben unbeteiligt zugesehen? Alles sehr seltsam.
Francesco
@HAHABerlin Es gab bis zum Einsatz des Pfeffersprays keine Gefahr, deshalb durfte das auch nicht eingesetzt werden.
Claudio
12 mal die Bodycams ausgeschaltet? Warum gibt es dafür nicht klare Dienstanweisungen? Wenn diese in solchen Fällen nicht eingesetzt werden, wann denn dann?
Wenn das NRW-Standard ist, kann man die Cams auch gleich wieder abschaffen.
Jeff
12 Bodycams, alle ausgeschaltet. Ein Toter.
NRW sagt: „Die nordrhein-westfälische Polizei führt flächendeckend Bodycams ein. Bis Ende 2020 will das Land insgesamt rund 9.000 Kameras anschaffen, die im Streifendienst deeskalierend wirken sollen. Mit den Geräten, die an den Uniformen befestigt sind, können die Streifenpolizisten auf Knopfdruck heikle Einsatzsituationen auf Video aufzeichnen.“ (polizei.nrw/presse...hein-westfalen-ein [abgerufen am 02.09.2022])
Das bedeutet wohl, dass alle zwölf Beamten die Situation nicht für heikel und damit die Bodycamaktivierung nicht für notwendig hielten - jedoch aber Pfefferspray, zwei (!) Tazerschüsse und schließlich mehrere tödliche Schüsse aus einer Maschinenpistole.
Ich sehe hier potentiell zwölf Personen, deren Aussagen eigentlich ein ziemlich deutliches Bild der tatsächlichen Lage zeichnen müssten. Und wenn nicht, dann gibt es hier zwölf Personen, denen potentiell wohl nicht mehr vertraut werden kann.