Großbritannien nach Tod der Queen: Der letzte Blick
Hunderttausende nehmen Abschied von der Queen und nehmen dafür langes Anstehen hin. London ist in den Trauermodus gefallen.
D ie Schwimmer ziehen ihre Runden wie immer. Die Männer von der Wasserwacht passen auf sie auf, Enten und ein Schwan leisten den Badenden Gesellschaft, am Ufer gehen ein paar Leute spazieren. Der Hampstead Men’s Pond ist eine Oase der Ruhe mitten in der großen Metropole. Doch seit Neuestem weht am Ende eines der Stege ein Union Jack im Wind über dem Wasser. Dort findet normalerweise nie eine Flagge, geschweige denn eine auf halbmast.
„Fang bitte nicht damit an“, seufzt einer der Wachmänner auf die Frage, was das solle, und erzählt es dann doch. „Also, es fing damit an, dass ein US-amerikanischer Schwimmer am Freitag meinte, es sei doch eine gute Idee, sich an der nationalen Trauer um die Queen zu beteiligen, vor allen weil wir ein öffentlicher Ort sind.“ Irgendwo in dem kleinen Häuschen, aus dem die Bademeister die Schwimmer beobachten, lag noch eine Flagge für spezielle Anlässe, etwa dem Gedenken an Kriegsgefallene. Jetzt war die Queen tot. Also hängten sie die Flagge an den Steg auf halbmast.
„Die Probleme fingen gleich am ersten Tag an“, erzählt der Mann weiter. Im linksbürgerlichen Hampstead finden manche Menschen die britische Flagge zu rechts. Außerdem waren sich die Bademeister nicht sicher, ob sie den Union Jack überhaupt richtig herum aufgehängt hätten.
Als sie dann am Samstag ihre Frühschicht begannen, erhielten sie mehrere E-Mails mit Beschwerden: Spaziergängern und Schwimmern sei die Flagge aufgefallen. Aber heute werde doch der neue König Charles III. proklamiert! Da gehöre der Union Jack nun auf vollmast! Auch der Amerikaner meldete sich und bat, die Flagge doch lieber wieder abzuhängen, damit man später nicht die Schuld auf ihn schieben könne. „Wir haben uns dann entschlossen, die Flagge auf halbmast zu lassen, weil spätestens am Sonntag sowieso wieder alles auf halbmast zur weiteren Trauerzeit zurück musste.“
Nun weht also über dem kleinen Badesee in Hampstead die britische Flagge auf halbmast, so wie auf unzähligen öffentlichen Gebäuden. Sogar die kubanische Flagge an der Botschaft Kubas wurde auf halbmast gesetzt.
Selbst an der Supermarktkasse wird der Queen gedacht
Doch unter den Flaggen geht das Leben in London weiter, trotz all der Trauer. In Covent Garden unterhalten Straßenkünstler:innen große Menschentrauben. Im West End sind die Restaurants und Kneipen gut besucht. Die Londoner Hotels sind bis zum Bersten gefüllt, so wie zuletzt vor zehn Jahren bei den Olympischen Spielen. Die Zimmerpreise während der Trauerzeit haben sich mindestens verdreifacht. Touristische Stadtrundfahrten sind begehrt, erzählt am Piccaddily Circus eine spanische Hilfskraft, aber die Busse kämen nicht durch. Die weltberühmte riesengroße Leuchtreklame am Piccadilly Circus zeigt nun zu mancher Stunde ein Bild der verstorbenen Queen, genauso wie die Werbeflächen an den Bushaltestellen.
Selbst im Supermarkt erscheint vor dem Monitor neben dem Wort „Kasse verfügbar“ ein Bild der Queen mit ihrem Namen. In den Souvenirläden der Innenstadt gibt es einen neuen weißen Umhang mit dem Profil der Queen sowie kleine Fähnchen mit dem gleichen Motiv. Der Preis: 12 Pfund, umgerechnet 14 Euro. London verdient gut an der Trauer.
So viel also getrauert wird, so schwierig ist die Frage zu beantworten, warum dem so ist. Zwei Rechtsanwälte in einem Pub müssen länger überlegen. „Ich glaube, die Queen hätte das nicht anders gewollt“, meint der eine. „Ja!“, bestätigt sein Freund, „es ist aber auch der britische Geist.“ Dann sagt er auf Englisch, was er damit meint: „We just carry on, carry on going!“ – auf Deutsch so viel wie: „Wir machen einfach immer weiter.“ Die Queen, findet der erste, hatte doch ein langes und relativ gutes Leben. „Mit 96 zu sterben ist kein tragischer Tod. Also kann man auch jetzt was trinken, ohne sich schuldig zu fühlen.“
Aber die Beerdigung am Montag werden sie natürlich im Fernsehen verfolgen. Der Freund hat sogar Bekannte zu sich nach Hause eingeladen. „Danach gehen wir gemeinsam was essen.“
Der Union Jack an der Mall
Das Regierungsviertel gleicht derweil einer Baustelle. Überall stehen Absperrungen. Mithilfe der Hebebühne von Lastwagen wurden am Dienstag Union Jacks entlang der rot geteerten Prachtmeile „The Mall“ aufgehängt, die vom Buckingham Palace zum Regierungsviertel führt. Gegenüber der Westminster Abbey, wo am Montag der Staatsakt zur Beerdigung der Queen stattfinden wird, ist eine Tribüne errichtet worden, das Kirchengebäude hat eine künstliche Verkleidung erhalten, im nahen St. James Park hinter den Regierungsgebäuden wachsen Versorgungszelte und Kommandozentralen aus dem Boden.
Am Buckingham Palace und beim Parlamentsgebäude, dort wo die Queen seit dem Mittwochabend in der Westminster Hall öffentlich aufgebahrt ist, entstehen Mediendörfer. „Wir bauen hier die Fernsehtechnik auf“, erklärt der 19-jährige Jack Scorer. Er ist für die Feuersicherheit zuständig. „Ich werde hier bis Montagabend im Einsatz sein und bin einer der jüngsten in der Crew. Meine Eltern sind voll stolz auf mich, dass ich hier für die Bestattungsfeier der Queen Hilfe leiste.“
Alle 25 bis 50 Meter erblickt man Sicherheitspersonal oder Polizeibeamt:innen. Sie sind aus dem halben Land nach London zusammengezogen worden. „Ich bin normalerweise auf Musikfesten und Fußballspielen tätig, wo die Leute oft angetrunken sind und sich daneben benehmen“, erzählt ein Sicherheitsmann. „Hier ist es ruhig, und bis jetzt sind alle Menschen freundlich.“
Abschied Seit dem Mittwochabend können die Menschen in London Abschied von der Queen nehmen. Der Sarg von Elizabeth II. ist für vier Tage bis zum Montagmorgen in Westminster Hall aufgebahrt. Die Öffentlichkeit hat an 23 Stunden täglich Zutritt.
Warten Die Regierung warnt vor sehr langen Wartezeiten, auch über Nacht. Die Times geht von 750.000 Besuchern, einer acht Kilometer langen Warteschlange und einer Wartezeit von 20 Stunden aus. Fotografieren und Filmen im Inneren sind verboten.
Trauerfeier Am kommenden Montag um 11 Uhr beginnt die staatliche Trauerfeier in der Westminster Abbey. Dafür haben sich Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt angesagt. Um einer Überfüllung zu begegnen, dürfen lediglich das jeweilige Staatsoberhaupt und der Partner anwesend sein. Ein Besuch des russischen Präsidenten Putin ist nicht erwünscht, er hatte auch nicht die Absicht zu erscheinen.
Beerdigung Nach der Trauerfeier wird die Queen nach Schloss Windsor bei London gebracht. Es folgt ein Gottesdienst. Anschließend erfolgt im Kreis der Familie die Beisetzung in der Familiengruft. (taz)
Doch Trauern wird mit jedem Tag komplizierter. Menschen, die am Buckingham Palace Blumen niederlegen möchten, werden durch die Absperrungen auf streng bewachte Umwege geschickt, die die Streckenlänge verdoppeln. Manchen Menschen ist das zu viel. Einem älteren Ehepaar ist der Weg zu lang geworden, sie kehren frustriert zur U-Bahn um. Anderswo brüllt ein kleiner Jungen im Kinderwagen untröstlich durch die Abendluft.
Langes Anstehen für einen letzten Blick
Die ersten Menschen, die am Mittwochabend den Sarg der Queen in der Westminster Hall betrachten, um sich persönlich von der Monarchin zu verabschieden, stehen bereits am Montagabend auf der anderen Seite der Themse am Lambeth Palace Schlange. Unter denjenigen, die es auf sich nehmen, tagelang bei Regen und der ersten Herbstkälte anzustehen, ist niemand mit einem weißen englischen Familienhintergrund.
Anne, am Dienstag in der Schlange wartend
Vanessa Nathakumaran, 56, stammt aus Sri Lanka. Grace Gothard kam in Ghana auf die Welt und Delroy Morrison in Jamaika – alles ehemalige britische Kolonien. Dazu steht hier Anne Daley aus Wales. Warum sie hier seien? Nathakumaran spricht stolz von ihrem Großonkel, den König George V. (1910–1936) einst zum Ritter schlug, und von ihrer Tochter, Mitglied der Ehrengarde der Queen beim 50. Thronjubiläum im Jahr 2002. Für Anne aus der walisischen Hauptstadt Cardiff – sie trägt ein walisisches Fußballtrikot – ist es einfach Betroffenheit, die sie hierher geführt hat. „Ich konnte am Anfang nicht mit dem Weinen aufhören, nachdem die Queen gestorben war“, erzählt sie.
Grace hat einen Union Jack um sich gewickelt und findet, dass Ghana und Großbritannien wie Zwillinge seien und die Queen viel für das Commonwealth geleistet habe. Auch Morrison findet das. „Ich liebe die Königin“, gesteht er, und lobt den 70-jährigen aufopfernden Einsatz „meiner Königin“.
Es gibt auch andere Stimmen – von weißen Engländern. Am Montagnachmittag hält der 36-Jährige Paul Powlesland vor dem Parlamentsgebäude einen leeren Papierblock in die Luft, Größe A3. Prompt bittet ihn ein Polizist um seine Personalien. Powlesland, ein Anwalt, der sich auf Umweltschutz spezialisiert hat, weigert sich und nimmt die Szene mit seiner Handykamera auf. Der Beamte lässt ihn in Ruhe, warnt ihn jedoch: Sollte er etwas zum König in seinen Block schreiben, werde er wegen Ruhestörung festgenommen.
Paul Powlesland, Londoner Anwalt
Der Vorfall hat Empörung ausgelöst, selbst konservative Parlamentarier haben gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit protestiert. Powlesland ist im Grunde gar kein versessener Antiroyalist. „Man hätte mich eher mit einem Schild über Wasserverschmutzung in Flüssen sehen können“, erzählt er der taz vor seiner Londoner Kanzlei. Es sei aber so, dass er an Meinungsfreiheit glaube. „Es erschien mir, als sei die Meinungsfreiheit durch die Atmosphäre der letzten Tage gefährdet gewesen. Ich verspürte eine wachsende Homogenisierung in den Medien, in denen die Erinnerung an die Queen meiner Meinung nach missbraucht wurde.“
Powlesland wundert sich: Wieso laufen da all die Feierlichkeiten und Zeremonien für den neuen König, wenn es eigentlich um die Trauer um die verstorbene Queen gehen sollte? „Das war alles ein bisschen anmaßend und lief in hoher Geschwindigkeit über die Bühne, ohne Diskussion. Und dann hält jemand wie ich ein leeres Blatt nach oben und wird beschuldigt, den Frieden gestört zu haben.“
Es ist nicht der einzige Vorfall dieser Art. Im schottischen Edinburgh wird eine Frau von der Polizei verhaftet, weil sie ein Schild mit den Worten „Fuck Imperialismus, schafft die Monarchie ab!“ hochhält. Ein anderer Mann, der Prinz Andrew als „alten kranker Mann“ beschuldigte, wird von Umstehenden zu Boden gerungen und von der schottischen Polizei festgenommen, während eine Frau in London mit einem Schild „Not my King!“ gebeten wird, dies zu unterlassen.
Die Londoner Polizei hat sich inzwischen geäußert: Der stellvertretende Polizeichef Stuart Cundy erklärt, dass die Öffentlichkeit ein Recht auf Protest habe und das man dies allen Beamt:innen noch mal klargemacht habe. Die schottische Polizei erklärt der taz hingegen, dass die Festnahme in Edinburgh sich nicht auf den Protest der Betroffenen bezogen habe, sondern auf deren späteres Verhalten.
Was halten die Wartenden von den Antimonarchisten? Von Leuten, die Reparationen vom Königshaus für Kolonialverbrechen fordern oder gar die Monarchie ganz abschaffen wollen?
Grace Gothard aus Ghana kontert sofort, dass im Römischen Reichs auch Brit:innen versklavt worden seien und deshalb Großbritannien nicht allein für Sklaverei verantwortlich gemacht werden könne. „Lassen Sie das Vergangene Vergangenheit sein“, fordert sie. Delory Morrison aus Jamaika, der eine Mütze in den panafrikanischen Farben Grün, Gelb und Rot trägt, will sich dazu nicht äußern. Stattdessen redet er über seine „königliche Robe“, die er tragen wolle, wenn er in den Saal mit der aufgebahrten Queen geht: Ein maßgeschneidertes Dashiki-Hemd im westafrikanischen Stil, grün mit weißen Stickereien.
Erinnerungen an eine Wohltäterin
Einer, der sich ebenfalls bald anstellen möchte, um am Sarg der Queen Abschied zu nehmen, ist Chris Imafidon. Der Professor leitet eine Organisation, die benachteiligte Kinder aus der Londoner Innenstadt mit Nachhilfe auf die Spitzenuniversitäten Oxford und Cambridge unterstützt. Die Queen hätte den von ihm betreuten Kindern immer geholfen, sagt er. „Wenn sie die Königin getroffen hatten, konnte die Kinder nichts mehr aufhalten, die letzte Meile zu gehen, um das zu erreichen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatten“, berichtet er. Gewählte Politiker:innen interessierten sich nur für Resultate in vier oder fünf Jahren bis zur nächsten Wahl. „Menschen wie die Queen ging es aber darum, was die Kinder in meiner Obhut tun werden, wenn sie 21 sind.“
Imafidon bemerkt, dass die Queen sich an alle Kinder erinnern konnte, wenn sie diese nach einem Jahr noch mal zu Gesicht bekam. „Ihr Gedächtnis war sagenhaft, auch im Alter. Sie war eine Schnellleserin, die mehrere Sprachen sprach und die sich wöchentlich alle Regierungsgeschäfte von A bis Z durchlas, um dann in den privaten Audienzen mit den jeweiligen Premierministern Fragen stellen zu können. Sie wusste über alles Bescheid.“ Und sie habe die Bibel so gut gekannt, dass sie jeden sofort korrigieren konnte, der etwas falsch zitierte.
Und was sagt dieser Fan der Queen zum kolonialen Erbe und zu Reparationen? „Offiziell konnte sie nur das tun, was die jeweilige Regierung wollte“, sagt Imafidon. Aber, betont er, „hinter verschlossenen Türen ist die Queen für Reparationen gewesen. Die Stipendien an junge Menschen aus afrikanischen Ländern wie Ghana, Gambia und Liberia und in der Karibik kamen ohne Ende. Ich habe das gesehen. Die Königin sagte selbst, dass sie auf manches in der britischen Geschichte nicht stolz sei und sie akzeptierte völlig die Entscheidung von Barbados, sie als Staatsoberhaupt abzuschaffen.“
Deshalb ist Imafidon seit dem Tod der Queen in alle möglichen Gottesdienste gegangen, ins Parlament, er sprach im Fernsehen und Radio über die Queen. Er nennt es Therapie. „Mein Kopf hat es immer noch nicht verstanden, dass sie von uns gegangen ist.“
Nun will er sich mit ehemaligen Schülern, die er über die Jahre nach Oxford und Cambridge befördert hat, in die Schlange vor Westminster Hall stellen und seinen ganz persönlichen Abschied nehmen. „Vielleicht hilft das ja, es endlich zu akzeptieren.“
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