: Gutes und böses Korn
Die Getreideexporte aus der Ukraine via Türkei nehmen langsam an Fahrt auf. Doch es bahnt sich auch ein erster Konflikt mit dem Libanon an
Von Bernhard Clasen, Jürgen Gottschlich und Julia Neumann
Zum ersten Mal seit dem 24. Februar fährt ein Schiff einen ukrainischen Hafen im Schwarzen Meer an. Am Freitag soll der unter liberianischer Flagge fahrende Frachter „Osprey’s“, der die Türkei am 31. Juli verlassen hat, im Hafen von Tschernomorsk anlegen. Dies teilte der Sprecher der regionalen Militärverwaltung von Odessa, Serhiy Bratchuk, mit.
Das ukrainische Ministerium für Infrastruktur nimmt weiter Anträge von Reedereien an, die ihre Schiffe für Getreidetransporte von ukrainischen Schwarzmeerhäfen in die Türkei zur Verfügung stellen wollen. Bereits jetzt, so berichtet das Portal obozrevatel, liegen 17 mit Getreide beladenen Schiffe in ukrainischen Schwarzmeerhäfen und warten auf die Erlaubnis zur Ausfahrt.
Erst am Dienstagabend kam das unter der Flagge von Sierra Leone fahrende Schiff „Razoni“ in Istanbul an. Es ist das erste Schiff, das nach dem Abkommen zum Getreidetransport, das sowohl Russland wie die Ukraine am 22. Juli in Istanbul unterzeichnet hatten, Getreide aus der Ukraine auf den Weltmarkt bringen konnte. Am Mittwochvormittag fand dann die Inspektion statt. Vertreter aus der Ukraine, aus Russland sowie von den Vereinten Nationen und der Türkei wurden von der türkischen Küstenwache zum Schiff gebracht, Ukrainer und Russen jeweils getrennt auf einem extra Boot. Dort wurde dann überprüft, ob die „Razoni“ tatsächlich wie angegeben ausschließlich Mais geladen hatte.
Die UN erklärten im Anschluss, die Crew und Ladung hätten den Vorgaben entsprochen. Und die insgesamt 20 Inspektoren hätten die Gelegenheit gehabt, mit dem Kapitän über die Route zu sprechen. Damit könne im Koordinationscenter in Istanbul nun eine Feinabstimmung der Route für das kommende Schiff erfolgen.
Es scheint also, als ob die Getreidetransporte aus den Schwarzmeerhäfen Odessa, Tschernomorsk und Pivdenni bald häufiger Richtung Istanbul aufbrechen würden. So erklärte auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba auf Twitter: „Wenn Russland seine Verpflichtungen im Rahmen der von den Vereinten Nationen ausgehandelten Getreideinitiative erfüllt, wird das Getreide an ausländische Käufer gelangen und dazu beitragen, die Lebensmittelpreise zu senken und eine Hungersnot zu verhindern.“
Derzeit lagern 20 Million Tonnen Getreide aus der Ernte vom vergangenen Jahr in ukrainischen Lagern, so der stellvertretende Infrastrukturminister Jurij Waskow gegenüber Radio Free Europe. Der Export dieses Getreides sei auch deswegen wichtig, weil man die Lager für die diesjährige Ernte brauche. „Nach unseren Berechnungen müssen wir mit allen Mitteln den Export von rund 6 Millionen Tonnen pro Monat sicherstellen, damit die Landwirte ihre Lagerkapazitäten freimachen können, ihr Geld für die von ihnen erzeugten Produkte erhalten und für die nächste Ernte planen können“, zitierte der Radiosender den Minister.
Unterdessen bahnt sich ein Konflikt zwischen der Ukraine und dem Libanon an. Dieser hatte zunächst das unter syrischer Flagge fahrende Schiff „Laodicea“ im Hafen von Tripoli eine Woche lang festgesetzt. Der ukrainische Botschafter im Libanon, Ihor Ostash, sagte auf einer Pressekonferenz am Mittwoch, das Schiff habe 10.000 Tonnen Weizenmehl und Gerste geladen. Russland warf er vor, das Getreide aus der besetzten Krim gestohlen zu haben. Ein Beamter eines türkischen Getreidehandelsunternehmens sagte der Nachrichtenagentur Reuters, das Schiff habe 5.000 Tonnen Mehl in den Libanon gebracht – um es an private Händler*innen zu verkaufen, nicht an die libanesische Regierung. Der ukrainische Botschafter spekuliert, dass dort ein höherer Preis gezahlt wird als in Syrien. Wenige Stunden nach der Pressekonferenz des Botschafters verkündete der libanesische Verkehrsminister, der Libanon habe das Schiff inspiziert und weiterfahren lassen. Die Staatsanwaltschaft konnte keine Straftat feststellen. Laut der Webseite Marine Traffic lief das Schiff am Donnerstagmorgen in Richtung Syrien aus. Dabei ist die „Laodicea“ vom US-Finanzministerium bereits seit 2015 sanktioniert – weil sie dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad zugeordnet wird.
In einer von der Nachrichtenagentur Ukrinform verbreiteten Erklärung äußerte sich das ukrainische Außenministerium enttäuscht: „Diese Entscheidung ermutigt Russland, im vorübergehend besetzten Süden der Ukraine weiter ungestraft zu stehlen. Darüber hinaus untergräbt der Libanon mit einer solchen Entscheidung seine eigene Ernährungssicherheit und verdrängt die Ukraine als zuverlässigen Partner.“ Das Ministerium forderte die libanesische Seite auf, die Entscheidung zur „Laodicea“ rückgängig zu machen. Zudem verlangte es Maßnahmen, die weitere Versuche verhindern würden, den Libanon für Geschäfte mit gestohlenem ukrainischem Getreide zu nutzen.
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