piwik no script img

Figurentheater im Westflügel LeipzigIm Saal der Puppen

Wo mal Ofenrohre lagerten, lässt man heute die Puppen tanzen. Im Westflügel Leipzig verbinden sich spielerisch Industriekultur und Unterhaltungskunst.

Ein Spiel mit den Puppen Foto: Sebastian König

Leipzig taz | Ein großes W lockt schon von Leipzigs Gastromeile auf der Karl-Heine-Straße in eine kleine Seitengasse. Unter dem W öffnet sich ein schweres, schmiedeeisernes Tor. Es war einst Zugang zu einem Festsaal, später Eingang zu einer Lagerhalle eines Röhrenfabrikanten. Jetzt gelangt man hier in das Internationale Produktionszentrum für Figurentheater Leipzig hinein.

Der Name ist etwas sperrig. Er bezeichnet aber auch präzise, was hier im Westflügel eines einstigen Tanzlokals geschieht: Figuren- und Puppentheater wird produziert und vorgezeigt. Das Spiel mit Puppen und Objekten ist im Osten Deutschlands traditionell als eigenständige Kunstform viel stärker verankert. Und ganz selbstverständlich sieht man hier im Treppenhaus, in der Bar, ja selbst im Hof Puppen als Kunstobjekte, manchmal sogar als Wesen, die belebt scheinen, wenn ein Lufthauch die Puppenmobiles in Bewegung setzt.

Viele stammen aus der Hand des Puppenbauers und Puppenspielers Michael Vogel. Kurz nach der Jahrtausendwende weckten er und seine Partnerin, die Musikerin Charlotte Wilde, den Westflügel aus seinem Dornröschenschlaf.

Wände atmen Geschichte

Im Jahr 1975 schon hatte die Ofenrohr- und Blechwarenfabrik Frölich den Betrieb hier eingestellt. Sie nutzte den im Jahr 1900 eröffneten einstigen Festsaal als Lagerhalle. Noch heute sieht man an den Wänden Größenmarkierungen, die anzeigten, welche Rohre welchen Kalibers hier gelagert wurden. In Zeiten, in denen Gasröhren zum Politikum werden, laden sich solche Markierungen mit neuer Bedeutung auf.

Verblasst, aber noch erkennbar ist die ursprüngliche Pracht des Jugendstilbaus, in dem sich vor mehr als 100 Jahren Leipziger*innen, Plag­wit­ze­r*in­nen und Lin­den­fel­se­r*in­nen zur Musik von Tanzkapellen mit- und umeinander drehten. Golden schimmert manches Farbpigment, wilde Schnörkel haben die schmiedeisernen Gitter und Geländer. Sie hielten viel länger durch als das Entertainmentunternehmen, für das sie ursprünglich angefertigt wurden. 1939 wurde das Gebäude von dem Ofenrohrfabrikanten Bernhard Frölich erworben und für seine Zwecke umgebaut. Das kann man bedauern, als Degradierung ansehen. Andererseits wurde ein Ort der Verschwendungs- und Vergnügungsindustrie zu einem nützlichen Ort für Dinge der Grundversorgung.

Jetzt sind im Westflügel Grundversorgung und Entertainment vereint, und obendrauf liegt auch noch Lokalgeschichte. In der Bar Frölich & Herrlich – benannt nach der Fabrikantenfamilie, von der ein Abkömmling sogar gelegentlich den Barbetrieb schmeißt, hängt ein Blatt, das die Familiengeschichte erzählt. 1885 wurde die Fabrik in Leipzig gegründet, von einem gelernten Löffelschmied. Sie wuchs, weil Leipzig wuchs, zur Industriestadt wurde, in der Eisen geschmolzen und dafür Kohle verbrannt wurde. Fabrikgründer Bernhard Frölich war auch Erfinder, hielt unter anderem ein Patent für einen Ofenrohrknie-Biegeautomaten.

Das Material Metall, das Frölich verwendete, taucht jetzt in den Drahtfiguren des Puppenbauers Vogel wieder auf. Hoch oben im Gebäude hat Vogel seine Werkstatt, die überquillt von Puppenleben, Puppenkörpern und Werkzeugen, aus denen sie geformt werden.

Leitung im Kollektiv

Zwei Puppen­theater­en­sem­bles, neben Wilde & Vogel noch Lehmann und Wenzel, arbeiten fest am Haus. Die Leitung ist kollektiv, besteht aus drei Kuratorinnen und den Künst­le­r*in­nen – in dieser Komposition eine Seltenheit selbst für die freie Szene. Dem Trägerverein gehören Haus und Grundstück. Gut angesichts der auch in Leipzig steigenden Mieten. Bespielt wird oft das ganze Haus, vom Festsaal über Foyer und Bar bis hinunter in den Keller, der sich sogar für Gespensterbahnarrangements eignet.

Viele Geister können hier hausen, ein echtes Kleinod im Schatten der Gastromeile in Leipzigs Westen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!