Notizen aus dem Krieg: Lieder, die zum Himmel schweben
Unsere Autorin hat sich an die Gefahr verminter Böden gewöhnt. Sie probt ukrainische Hochzeitslieder, während Bomben fallen.
Kateryna Smirnowa ist 25 Jahre alt und kommt aus Kiew. Sie hilft in den umliegenden Dörfern beim Wiederaufbau der zerstörten Häuser. Neben dieser Freiwilligenarbeit und der Arbeit als Übersetzerin ist sie Schlagzeugerin in einer Folkband, die traditionelle ukrainische Lieder für eine Opernaufführung aufbereitet. Für die Proben mit der Band reist sie regelmäßig nach Lwiw.
Rückblick
Am 23. Februar, dem Abend vor der russischen Invasion, aß ich mit Freunden zu Abend. Wir waren gerade alle aus verschiedenen Städten zurückgekommen, jammten und tanzten zu ukrainischem Funk. Wir waren laut, wild und voller Energie, nur ab und zu erhaschte ich einen Blick von jemandem, und dann konnten wir die bevorstehende Tragödie in unseren Augen sehen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, sah ich vor meinem Fenster den dichten Rauch, der von einem zerbombten Flughafen kam. Ich hatte geplant, mit einem Freund joggen zu gehen, doch er ging zur Territorialverteidigung, und ich sah zu, wie die Leute ihre Koffer in die Autos luden und abfuhren. Ich war erstarrt. Immer wenn ich in der Ferne einen Vogel sehe, der schnell über den Himmel fliegt, denke ich, es sei eine Rakete. In den mehr als fünf Monaten des Krieges habe ich gelernt, dass ich mich am besten beruhigen kann, wenn ich auf den Horizont schaue.
Ich bin eine Performerin. Gemeinsam mit Freunden mache ich bei einer Oper mit, die traditionellen Gesang, Orchester und Theater kombiniert. Sie ist dem ukrainischen Opernsänger Wassyl Slipak gewidmet, der an der Front des 2014 begonnenen Krieges kämpfte und starb. Im Jahr 2022 zerstörten die Russ:innen zum zweiten Mal seine Gedenkstätte in der Region Donezk.
Wir sind zehn Sänger:innen, einer von uns trägt jetzt die Uniform eines Soldaten. Der Leiter unserer Oper, Jurko, selbst ein Dichter, wurde kürzlich verwundet. Er hat bereits 2014 unser Land verteidigt. Als wir noch hofften, dass es keinen großen Krieg geben würde, wollten wir die Oper in diesem Frühjahr für die Veteranen von damals aufführen. Jetzt, da ich meine Freunde unter den Soldaten, den Lebenden und den Toten, wiederfinde, bekommt sie eine ganz neue Dimension. Die Sanftmütigen und die Grimmigen. Dichter:innen, Aktivist:innen, Ärzt:innen, Bergsteiger:innen, Lehrer:innen. Die Blüte der Nation.
Wir haben immer noch vor, die Oper aufzuführen, irgendwann. Ob das Opernhaus noch steht oder nicht. Für die Lebenden und die Toten. Für die unermüdlichen Freiwilligen – das ist inzwischen jede(r) zweite Ukrainer:in – und für die Menschen in den besetzten Städten.
Die traditionelle Musik hat mir die Region Tschernihiw besonders ans Herz wachsen lassen. Die Natur und die Holzhäuser hallen in den herzzerreißenden Liedern wider, die von den älteren Frauen gesungen werden. Letzten Sommer haben wir hier eine Schule für traditionelle Musik besucht. Wir wohnten eine Woche lang in einem Herrenhaus, tanzten zu Geigenmusik und Rahmentrommeln und schwammen nackt im Fluss.
Keine Ahnung, was ich mit mir angestellt hätte, wenn man mir gesagt hätte, dass ich in einem Jahr in die jetzt entvölkerten Dörfer derselben geliebten Region kommen würde, um die Überreste der von Panzern und Raketenangriffen zerstörten Häuser wegzuschaufeln. Einige dieser Häuser würden in einen Eimer passen. Sie alle sollten an die nächste Generation weitergegeben werden. Während ich schaufle, stecke ich mir ein paar leere Patronenhülsen in meine Tasche. Durch die Explosion haben sie sich zu seltsamen Formen zusammengerollt und erinnern mich an Kerzenständer. Für die Seelenruhe der russischen Soldaten, denke ich mir.
An einem Tag im Mai, nachdem ich den ganzen Tag mit Freiwilligen, die wie Hipster aussehen, zu ukrainischer 70er-Jahre-Musik geschaufelt hatte, ging ich auf das Feld, um den Sonnenuntergang zu sehen. Die russischen Soldat:innen waren schon im Dorf, aber es war trotzdem nicht ratsam, in die Felder oder Wälder zu gehen, also blieb ich in der Nähe der Straße. Die App auf meinem Handy zeigte einen Luftangriffsalarm an. Der Klang der Sirene passte gut zu den dramatischen Farben des Sonnenuntergangs und ich blieb stehen. Plötzlich sah ich einen alten Mann, der seine Kuh nach Hause führte. Er sah so aus, als wollte er das Feld überqueren.
„Möge Gott dich beschenken“, grüßte ich ihn. „Darf ich in deinen Fußstapfen über das Feld gehen? Ich habe immer noch Angst vor den Minen.“ Er lächelte. „Warum nicht?“ Die Kuh führte uns. Und ich schaute genau hin, wo ich hintrat, denn ich würde im Dunkeln allein zum Freiwilligenlager zurückkehren.
1. August
Ich aktualisiere ständig meine Twitter-Benachrichtigungen. Die Zahl der „Likes“ auf meinen Kommentar nimmt stetig zu, und manchmal ist die Gewissheit, dass einige Dutzend Ausländer:innen eine Erklärung gegen die russische Propaganda gelesen und ihr zugestimmt haben, das Einzige, was mich an einem Tag aufrecht hält.
Vor zwei Tagen haben wir erfahren, dass die Russ:innen das Gefangenenlager in Oleniwka in der Region Donezk zerstört haben, in dem sie ukrainische Kriegsgefangene, darunter auch die Verteidiger:innen von Asowstal, gefangen hielten. Am 20. Mai, nachdem sie 86 Tage lang Mariupol und die Anlage Asowstal als letztes Gebiet unter ukrainischer Kontrolle verteidigt hatten, erhielten sie den Befehl, ihr Leben zu retten, indem sie zu Kriegsgefangenen werden sollten und auf ein offizielles Austauschverfahren gemäß der Genfer Konvention warten. Das sind die Soldaten, die von den Russ:innen und den prorussischen Medien im Ausland als Neonazis beschimpft werden. Das sind auch die Soldat:innen, die Zivilist:innen mit ihren Körpern beschützten, als die grünen Evakuierungskorridore von den Russ:innen, entgegen dem Versprechen eines Waffenstillstands, beschossen wurden. Das sind die Soldat:innen verschiedener Nationen, Glaubensrichtungen und sexueller Orientierungen, für die wir Plakate und Stickereien anfertigten, Lieder schrieben, Marathons liefen und demonstrierten. Das sind die Soldat:innen, von denen jetzt mindestens 53 im Schlaf getötet wurden.
Ich treffe meine Freunde in einer Bar im Zentrum von Kiew. Ein Phänomen, das mir schon vor einiger Zeit begegnet war, fällt mir heute ganz besonders auf: Eine besondere Art des ukrainischen Lächelns, das sich durch – Gott weiß was für Kräfte – im Gesicht festsetzt. Es bricht mir das Herz, es auf den Gesichtern meiner Freunde zu sehen, aber ich bin mir auch bewusst, dass meine Muskeln das gleiche Lächeln formen. Wann immer sich Menschen treffen, nachdem ein weiterer massiver Beschuss oder ein Raketeneinschlag in irgendeinem Teil der Ukraine stattgefunden hat, sieht man dieses zuckende, zerbrechliche Lächeln, das niemanden verzweifeln lassen und keinen Schmerz zeigen soll, obwohl wir alle wissen, dass wir ihn fühlen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
„Die ukrainischen Streitkräfte haben nie ihre eigenen Leute beschossen – das ist eine Propagandaerzählung, die seit acht Jahren, seit Beginn des Krieges, verbreitet wird. Bitte hüten Sie sich davor“, lautet mein bescheidener Kommentar in den sozialen Medien. Normalerweise formuliere ich schärfer, beziehe mich auf historische Ereignisse, benutze fast nie das Wort „bitte“. Nachdem ich die zweideutigen Schlagzeilen (hinsichtlich der Schuldfrage) in den internationalen Medien las, war dieser Kommentar das Beste, was ich zustande brachte. Das machte die Situation schlimmer und einsamer. Aber an diesem Abend in einer Bar teilten wir unser ukrainisches Lächeln.
2. August
Heute ist der erste Tag einer weiteren Probenphase mit meinem Opernteam in Lwiw. Wir haben beschlossen, ein paar Tage in den Bergen in der Region von Lwiw zu verbringen, bevor wir die Arbeit in der Stadt fortsetzen. Das nächste Programm, das wir vorbereiten, soll aus Folkpsalmen und anderen religiösen Genres bestehen. Aber an diesem ersten Tag haben wir einfach Lust, alle bereits erlernten Lieder aus unserem Repertoire zu singen, um wieder in Form zu kommen.
Ich bin direkt nach zwei Wochen Freiwilligenarbeit in den Dörfern um Kiew und in der Region Tschernihiw angekommen und zögere immer noch ein paar Sekunden, bevor ich ein Feld überquere oder einen Waldspaziergang mache. Mein Körper gewöhnt sich schnell an die Warnungen vor potenziell verminten Gebieten, die es in diesem Teil des Landes eigentlich nicht gibt – so hofft man jedenfalls.
Wir beenden die ersten Sitzungen mit dem Singen ritueller Hochzeitslieder. Ukrainische Hochzeitslieder sind selten von sanfter und freudiger Natur – die Hochzeit galt früher als Abschied im engsten Familienkreis, und so konnte man viele Parallelen zu Begräbnispsalmen feststellen. Die Lieder schweben durch den Himmel und wir verpassen den Luftangriffsalarm auf unseren Handys. Es stellt sich heraus, dass die Raketen etwas nördlich von dem Ort einschlugen, an dem wir uns aufhalten.
„Hier ist ein Berg, und dort ist ein Berg, und ich bin dazwischen. Mein armer Kopf, ganz allein, wird von Feinden beobachtet. Hier ist ein Berg, und dort ist ein Berg, und ich bin dazwischen. Ich würde gerne einen Brief an meinen Liebsten schicken, aber ich habe Angst, dass die Feinde ihn mir wegnehmen.“ – ein Lied aus der Bergregion der Karpaten.
Aus dem Englischen von Sara Rahnenführer
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