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Schön-rätselhafte Unterwelt

Wenn nicht mal genaues Schauen alle Fragen beantwortet: Der Bildersammler, Fotograf, Professor und Zeichner Peter Piller schiebt „Geröll“ an die Wände der Lübecker Overbeck-Gesellschaft

Ganz eigener visueller Kosmos: Peter Piller, ohne Titel (2019, l.) und ohne Titel (2022) Foto: Fred Dott, Courtesy Galerien Capitain Petzel, Berlin, und Barbara Wien, Berlin © VG Bild-Kunst Bonn 2022

Von Frank Keil

Hält sich da jemand mit aller Kraft fest, will nicht abrutschen, will nicht fallen? Oder will da jemand im Gegenteil etwas umstürzen, vielleicht auch etwas einreißen, eine Mauer, eine Wand? Jedenfalls sind es zwei Männerhände, die zu betrachten sind, die Adern treten vor Anstrengung sichtbar hervor; dazu ein Spalt, ein Riss, wobei die deutlich erkennbar verpixelte Abbildung nahelegt, dass es sich um ein Bild von einem Bild handeln muss. Vielleicht ein Ausschnitt, eine Detailansicht von was auch immer; vermutlich basierend auf einem Foto aus einer Zeitung, einer einst erklärenden Abbildung im einem Sachbuch, irgendwann in ganz anderer Absicht auf Papier positioniert, als der, nun für sich in einem stillen Kunstraum zu hängen und betrachtet zu werden.

„Geröll“ nennt Peter Piller seine aktuelle Ausstellung im Pavillon der Lübecker Overbeck Gesellschaft. Ein passender Name, wie man bald merken wird: Denn viel abgebildet Steinernes zeigt sich da, einerseits, auf anregend rätselhafte Art; vieles aber scheint aber auch im Wege zu liegen, wie Geröll schon mal das Vorankommen erschwert. Man wird also zum genauen Schauen eingeladen – und ahnt bald, dass nicht mal das hier alle Rätsel löst.

Sie hießen „Tatorthäuser“, „Schießende Mädchen“, „Suchende Polizisten“ oder auch „Unangenehme Nachbarn“: Mit Serien und Sammlungsprojekten hat sich der in Hamburg lebende Piller immer wieder einem breiteren Publikum genähert, hat auch durchaus Anerkennung einheimsen können. Denn stets überzeugte die zuweilen trockene wie rätselhafte Komik, wenn er etwa aufgefundene Luftbildaufnahmen von Einfamilienhäusern mit heruntergelassenen Jalousien und verschlossenen Fensterläden in der Serie „Schlafende Häuser“ versammelte.

„Ich interessiere mich für das Bild, das ein Eigenleben führen darf“

Peter Piller

Oder wenn er in „Durchgeschnittene Einweihungsbänder“ buchstäblich zeigte, wie Kommunalpolitiker ihre Bedeutung zu erhöhen suchen, indem in der regionalen Tagespresse regelmäßig gezeigt wird, wenn irgendwo Bänder durchzuschneiden sind, damit danach etwas eingeweiht ist: oft eine Straße, manchmal auch ein Gebäude. Was genau, ist bei den von Piller archivierten, geradezu floskelhaft gleichförmigen Fotos meist gar nicht zu erkennen – dazu müsste man selbst dabei gewesen sein, an der Umgehungsstraße, im Autohaus.

Regelmäßig präsentierte er diese Alltagsforschungsberichte als Ausstellungen, destilliert aus einer zehn Jahre langen Sichtung von Fotos aus Regionalzeitungen; bündelte seine Fundwelten auch in Fotobüchern. Und er versammelte sie aber immer auch wieder auf seiner Homepage, die in unaufgeregtem schwarz-weiß-Design, in recht kleiner Schrift und konsequent frei von jeglichen kunstwissenschaftlichen Begleittexten oder auch nur Erklärungen ebenfalls reichlich spröde daherkam. 2013 brachte Piller seinen Internetauftritt noch einmal auf Stand, aktualisiert ihn seitdem nicht mehr, schaltet ihn aber auch nicht ab: Jener Auftritt ist nun selbst zu einer Art Archiv geworden, das sich überlassen bleibt. Eine „schöne Ruine im Abendlicht“ hat Piller selbst seine stillstehende Homepage mal genannt.

Seitdem aber hat er in seinen fortlaufenden fotografischen Präsentationen gezeigt, dass er nie nur schnöder Bildersammler und-Verwerter war. Immer schon hat er selbst fotografiert, auch an Hochschulen gelehrt; und er hat immer schon gezeichnet. Dabei kehrte er immer wieder zu einem zentralen Thema zurück, das ihn schon während des Studiums an der Hamburger Kunsthochschule beschäftigte: die prähistorische Höhlenmalerei und ihre Dokumentation in Bildbänden und Fachbüchern.

Fasziniert von Höhlenkunst: Peter Piller, ohne Titel (2020) Foto: Fred Dott, Courtesy Galerien Capitain Petzel, Berlin, und Barbara Wien, Berlin © VG Bild-Kunst Bonn 2022

Besonders interessiert er sich dabei für das Phänomen der sogenannten „unbestimmten Linien“, das die Fachwelt bis heute rätseln lässt – Linien, in den Fels eingeritzt oder auf ihn aufgetragen, bei denen sich nicht mit Bestimmtheit sagen lassen kann, was und ob sie etwas zu bedeuten haben und ob es sich überhaupt um Menschengemachtes handelt. Und wenn, ob es dann um Kultisches geht oder um Künstlerisches, das lässt sich fragen – und was jeweils die Trennungslinien wie Schnittstellen sind.

So besuchte Piller Höhlen in Spanien, Portugal und Frankreich, schaute sich dort um, wie er auch immer wieder in einschlägigen Fachbüchern geblättert hat. Und nun zeigt er uns Bilder voller schöner Rätselhaftigkeit, von Welten unter der Erde. „Ich interessiere mich für das Bild, das ein Eigenleben führen darf. Oder für das Bild, das ein Missverständnis hervorruft“ – ein dazu passendes Piller-Zitat. In seiner Lübecker Ausstellung belässt er es nicht bei seinen fotografischen Höhlenzeichnungen, sondern er umgibt sie mit Exponaten eines ganz eigenen visuellen Peter-Piller-Kosmos: Ein verwackeltes Pferd lässt sich da etwa betrachten, ein Putzlappen hängt auf einer Leine, Rücklichter von Fahrzeugen irgendwo auf einer Straße lassen sich erahnen, so wie auch (weitere) Männerhände beim Tun irgendwessen zu betrachten sind. Als Besucher ist man eingeladen, das Geröll zur Seite zu schieben und sich einen eigenen Weg zu bahnen. Wohin auch immer der führt.

Peter Piller – Geröll: bis 28. 8., Lübeck, Overbeck-Gesellschaft/Pavillon

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