Boom von Online-Dating: Zufall oder Schicksal
Manche wollen in der Liebe das Schicksal erkennen, andere vertrauen auf den Zufall. Dating-Apps profitieren in jedem Fall.
Treue Liebe, toller Sex – und das bitte öfter als nur „Tausendundeine Nacht“ lang. Wer sich verliebt, ersehnt sich den ganz großen Jackpot bei der Partnerwahl. Verkupplungs-Methoden reichen von Empfehlungen im Freundeskreis bis zu arrangierten Ehen. In ultraorthodoxen jüdischen Gemeinden werden Gentests genutzt, um die Kompatibilität in Sachen Fruchtbarkeit sicherzustellen und genetische Erkrankungen beim Nachwuchs auszuschließen. Hier überlässt man nichts dem Zufall.
Rationale vor romantische Kriterien bei der Partnersuche zu stellen, hat Tradition. In kulturellen, sozialen Gemeinschaften wird oft auf vergleichbare Eigenschaften beim Gegenüber bestanden. Nur wer den Test besteht, kommt als geeigneter Kandidat in Frage und in der Regel aus dem bekannten sozialen und auch lokalen Umfeld. Viele Vertrauen deshalb dem Netz: OkCupid und Grindr oder Internetportale wie Parship bedienen die Hoffnung, einsamen Singles zu einer glücklichen Partnerschaft zu verhelfen.
Rund 24 Prozent der Deutschen lernen ihre Partner mittlerweile online kennen. Neben kostenpflichtigen Partnerbörsen beherrschen seit gut zehn Jahren Gratisapps (mit kostenpflichtigen Zusatzfunktionen) den Markt. Bis 2024 soll der Branchenumsatz hierzulande auf stolze 58 Millionen Euro anwachsen. Kein Wunder, in Deutschland leben derzeit mehr als 22 Millionen Erwachsene ohne feste Beziehung. Tendenz steigend.
Sebastian Matkey von Lovoo betont das Anliegen, nicht nur Matching-Mechanismen zu verfolgen. „Wir setzen seit jeher erfolgreich auf das Umgebungsprinzip – und bringen Menschen in der Nähe zusammen. Algorithmen spielen da eher eine untergeordnete Rolle.“ Auch andere Partnerportale bedienen häufig das schicksalhafte Ideal romantischer Liebe, fernab der Algorithmen. Aber gelingt ihnen das?
„Liebe ist alles, alles, was wir brauchen“ sang schon Rosenstolz 2004. Doch was ist Liebe überhaupt? Der Duden meint: Liebe ist eine Bezeichnung für stärkste Zuneigung und Wertschätzung. Doch lässt sich in Zeiten von Krisen und Kriegen überhaupt noch lieben? Wie politisch ist das Ganze? Und was haben Rassismus, Psychotherapie und Digitalisierung damit zu tun? Diesen großen und kleinen Fragen wollen wir uns von nun an regelmäßig in der gedruckten taz und auf taz.de widmen.
Am 30. September 2022 findet der talk „Stimme meiner Generation“ – Herzscheiße und die Zukunft (FUTURZWEI) statt. Weitere Infos hier.
Jeder Klick wird analysiert
Start-ups für mobiles Dating wie Lovoo oder Tinder nutzen, neben dem Matchmaking auf Basis selbstlernender Algorithmen, Funktionen wie den Live-Radar, eine spielerische Kontaktsuche per App in Echtzeit. Sind potenzielle Partner in der Nähe, erfolgt eine Benachrichtigung für den spontanen Flirt in der analogen Welt. Die Idee zu einem technologischen Datingprogramm, das der heutigen Funktionsweise nahe kommt, stammt aus den USA. Ende der 1950er Jahre entwickelten zwei Elektroingenieure den „Marriage Planning Service“. Ziel war es, auf Grundlage ähnlicher Interessen und Eigenheiten möglichst viele Paare zu bilden. Dazu teilten die Wissenschaftler Fragebögen aus und ließen Computer Übereinstimmungen berechnen.
Ausgangspunkt der algorithmischen Herangehensweise bildet die Wirtschaftsmathematik. Erneut waren es US-Forscher, die Lösungen suchten, um Akteure verschiedener Märkte automatisiert miteinander zu verbinden. Der eingesetzte Algorithmus entwickelte Systeme, um medizinisches Personal besser auf Krankenhäuser zu verteilen oder gezielt Spenderorgane zu vermitteln. Statt Zufallsbegegnung herrscht auf den Datingportalen kalkulierte Marktmentalität. Sie erzeugen ein kapitalistisches Konsumverhalten in der Liebe und vermitteln das Gefühl, nicht nur Sex, sondern tiefe Zuneigung ließe sich planen.
Jeder Klick wird analysiert, Neigungen gespeichert. Die schmeichelhafte Big-Data-Maschinerie in Hosen- oder Handtasche hinterfragen Nutzer kaum. Bei Tinder können täglich unbegrenzt viele Personen durch links oder rechts ‚swipen‘ beurteilt werden, anderswo nur ein Kontakt. Das Feedback anderer beeinflusst den individuellen Attraktivitätswert. Je nach eigener Anziehungskraft werden einem vergleichbare Matches präsentiert. Und umgekehrt. Wer als gut aussehend erachtet wird, darf auf eben solche Bekanntschaften hoffen.
Beobachtet wurde dabei, dass asiatische Männer und schwarze Frauen weniger häufig Anfragen bekommen. Infolgedessen sinkt ihr Attraktivitätswert und führt dazu, dass sie anderen Singles seltener empfohlen werden. Weiße Menschen werden dagegen öfter geliked und angezeigt. Was Stereotypen und Ungleichgewichte verstärkt.
Dating wird diverser
US-Studien zeigen allerdings auch, dass Nutzer von Dating-Apps inzwischen vermehrt außerhalb ihrer gewohnten sozialen Reichweite nach Kontakten suchen. Nach dem Launch digitaler Partnervermittlungen ließ sich ein Anstieg der Diversität in Ehen feststellen, zum Beispiel zwischen afroamerikanischen und weißen Personen in den USA.
Welche Gemeinsamkeiten für eine stabile Verbindung ausschlaggebend sind? Äußerlichkeiten als Parameter kommt bei Dating-Apps eine besonders gewichtige Rolle zu. Die Orientierung an inneren Werten scheint zweitrangig.
Studien der Uni Lausanne bestätigen den Reiz unterschiedlicher Gen-Pools. So sollten in einem Experiment Probandinnen an T-Shirts riechen und die Anziehung des Trägers anhand des Geruchs bemessen. Zuvor hatten männliche Teilnehmer drei Tage und Nächte lang dasselbe T-Shirt getragen – ohne sich zu waschen, Deo oder Parfüm aufzutragen. Fazit: Schweiß riecht attraktiv. Je attraktiver jemand eingestuft wurde, umso mehr unterschieden sich bestimmte Gene voneinander.
Die 2022 am besten bewertete Partnervermittlung Parship hebt die Einstellungen ihrer Mitglieder hervor. Kommunikationsstil und Alltagsgestaltung werden abgefragt. „Das Matching zeigt das Ergebnis des Vergleichs der Partnerschaftspersönlichkeiten“, erklärt PR-Managerin Jeannine Kock. „Beginnend bei der stimmigsten Balance aus Gemeinsamkeiten und Ergänzungen objektiver Persönlichkeitsmerkmale.“ Es gelte die Prämisse: „So viel Ähnlichkeit wie möglich, so viel Unterschied wie nötig.“
Ausschauhalten nach dem Optimum
Nutzung und Gewichtung von Merkmalen und Angaben bleiben am Ende in sehr vielen Fällen vollkommen unklar. Ein auf die Standortbestimmung basierendes Prinzip hat den Nachteil, dass selbst seriöse Dating-Apps Informationen verwerten und ohne explizite Zustimmung an andere Nutzer oder soziale Netzwerke weitergeben können. Oder dass der passende Partner im 600 Kilometer entfernten Ort aus App-Sicht irrelevant ist. Ein Reiz von Online-Dating ist dabei nicht wegzureden: der Faktor Selbstbestimmung. App-Kunden geben sich im Glauben daran der Illusion hin, in ihren Entscheidungen nicht gelenkt zu werden – falls doch, dann natürlich nur zum eigenen Vorteil. Auch wenn dem irgendwann der eigene Marktwert im Weg zum Traumpartner steht.
Hauptsache ist, dass dank Generationenwandel Suchen und Finden in der Liebe nicht mehr fremdbestimmt im quasi rechtsfreien Raum ablaufen muss. Zwar hat sich das Ideal der “freien Liebe“ in den 1960er-Jahren mit Blick auf die Familienplanung bürgerlichen Konventionen gebeugt. Gleichzeitig gilt im Westen ein rigoroses Einmischen bei der Partnerwahl heute als absolut inakzeptabel.
Mitbestimmen dürfen dabei Zufall oder Schicksal, wobei Letzteres gefühliger anmutet. Wer will schon oversexed and underfucked warten, bis einen endlich der Zufall mit dem vagen Versprechen einer langlebigen und wunderschönen Beziehung küsst?
Besser ist, wenn die „glückliche Fügung“, fast wie bestellt, in Form einer App erscheint. Verkrampftes Ausschauhalten nach dem Optimum (#couplegoals) da draußen weicht beim Online-Dating lockerem, bequemem Zeitvertreib. Willkommener Nebeneffekt: Mit einer Rechenformel für das perfekte Match soll auch die Angst vor Ablehnung ausgeschaltet werden. Und für den Fall, dass Erwartungen trotzdem nicht erfüllt werden, hilft bestimmt die nächste App weiter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga