: „Die EM ist ein Fest, kein Krieg“
EUROPA Der ehemalige Banker und bekennende Europäer Norbert Walter über europäische Identität und Eurokrise, über die Angst vor den Deutschen und die segensreiche Wirkung junger Frauen beim Public Viewing
■ 67, ist promovierter Ökonom und war bis Ende 2009 Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Als Student fühlte er sich der Achtundsechzigerbewegung zugehörig. Er war für verschiedene Gremien der EU tätig und ist Mitglied des Bundes Katholischer Unternehmer und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Nach seinem Ausscheiden aus der Deutschen Bank gründete er die Firma Walter & Töchter Consult. Zuletzt erschien von ihm „Europa – Warum unser Kontinent es wert ist, dass wir um ihn kämpfen“ (Campus-Verlag, 2011).
INTERVIEW JAN FEDDERSEN
taz: Herr Walter, Ihr jüngstes Buch heißt „Warum unser Kontinent es wert ist, dass wir um ihn kämpfen“. Das heißt im Hinblick auf die Fußball-EM in der Ukraine und Polen was?
Norbert Walter: Beim europäischen Fußballwettbewerb wie beim Eurovision Song Contest gibt es das, was wir für gesellschaftliche und ökonomische Prozesse auf unserem Kontinent leider nicht haben, nämlich Staatsbürger, die sich für dieses Thema richtig engagieren.
Staatsbürger?
Ja, wir haben bei beiden Events eine private Community, die an diesen leidenschaftlich interessiert sind. Aber Staatsbürger, die sich politisch und gesellschaftlich für Europa verantwortlich fühlen? Nein, die haben wir leider nicht.
Was heißt das denn – sich für Europa verantwortlich fühlen?
Es hat keinen Sinn, ewig auf politische Eliten zu hoffen, die im leeren Raum ohne Bürgerengagement dieses Europa bauen können. Es fehlt an der Vorstellung in Europa, diesen Kontinent als gemeinsames Erbe zu begreifen. An Menschen, die stolz auf diesen Kontinent sind, die ihn als ihr Projekt von Identität empfinden. Cicero sagte: Ich liebe meine Heimat Apulien und bin stolzer Bürger Roms. Man stelle sich vor, ein deutscher Wissenschaftler sagt, ich bin stolzer Niedersachse und engagierter Bürger Europas. Das wäre komisch – noch.
Weshalb eigentlich?
Es mangelt am Bewusstsein, über das Nationale hinauszugehen. Denn die Wirklichkeit Europas gibt es ja schon lange. Wir nehmen sie nur nicht so richtig wahr. Wir tun so, als ob die dominierende Realität im Politischen der Nationalstaat sei. Das ist falsch. Weder Deutschland noch Italien existieren schon lange. Europa ist ein vielfältiger, aber gemeinsamer Raum. Der Nationalstaat ist oft künstlich.
Wie meinen Sie das?
Wenn man sich von Köln nach Paris begibt, ändert sich äußerlich vielleicht graduell etwas, in Nuancen, aber niemals dramatisch. Wir essen alle ähnlich, trinken ziemlich die gleichen Getränke, wir freuen uns über die gleichen Feste. Und schaut man sich Gebäude an, scheint alles nah und verwandt. Italienische Architektur haben wir auch in München und Görlitz.
Aber ist Europa, nicht zuletzt durch die EU, inzwischen stark nach innen entgrenzt und kulturell stärker harmonisiert denn je?
In der Tat. Ich selber gehörte früher zu den bösen Buben, die bayerische Grenzpfähle umgesägt haben. Die gab es damals nämlich noch. Heute sind wir, dank Schengen, in einem Europa fast ohne Grenzen. Und schaut man sich den Handel an, ist die Wirklichkeit europäischen Austausches offenkundig.
Nun, im Fußball spielt die Europäisierung nur auf Vereinsebene eine Rolle. Jetzt bei der EM geht es um Nationales.
Richtig, doch zugleich ist ganz offenkundig, dass es sich dabei um einen Wettbewerb handelt, der als Fest, nicht als Krieg inszeniert wird und der gemeinsame Stärke erzeugt. Das werden wir auch in Polen und der Ukraine erleben. Die erregten Gemüter wie vor zwanzig, dreißig Jahren wird es auch wieder geben. Und das gefällt mir. Aber es hat nicht mehr diese Aufladung wie in meinen Jugendjahren.
Heißt das nicht auch, dass Hochmut immer vor dem Fall kommt? Dass etwa bald nach dem arroganten Statement Franz Beckenbauers nach dem WM-Titel 1990, Deutschland sei auf Jahre unschlagbar, eine Krise sondergleichen den deutschen Fußball erfasste?
Aber das war damals ein Zeichen eines alten Phänomens – das sehen wir in Betrieben, in der Familie, im Sport. Wer im Kopf schon glaubt, der Beste zu sein und das komplett verinnerlicht hat, ist in Gefahr, nicht mehr im rechten Wettbewerbsgeist in die Veranstaltung zu gehen. Ich bin deshalb auch in Sorge, dass wir vor dieser Europameisterschaft schon den Titel gewonnen zu haben scheinen.
Nach zwei dritten Plätzen bei Weltmeisterschaften und einer Finalteilnahme vor vier Jahren bei der EM erwartet jetzt alle deutsche Welt: Wer, wenn nicht Deutschland, kann denn gewinnen?
Das hoffe ich doch auch. Aber mehr als gute Voraussetzungen gibt es für diese Hoffnung nicht. Wer wie ich den Fußball durch eigenes Mitmachen kennt, weiß, dass ein Element wie unbändiger Wille, gepaart mit Engagement, eine große Rolle spielt. Deshalb würde ich sagen: Achtung! Für die polnische Mannschaft gilt das in viel besserer Weise als für die deutsche. Und so könnten die Deutschen als höchst qualifizierte Verlierer enden, siehe die Bayern in der Champions League.
Zumal die DFB-Kicker die Sympathien geben können, die deutsche Kanzlerin europäisch gesehen die herzlose Eurogeizhälsin verkörpert.
Wer eine reale Welt kennt, in der es Führungsaufgaben gibt, die von jemandem wahrgenommen werden, weiß, dass Liebe und Wertschätzung für jemanden, der diese Rolle übernimmt, nicht realistisch sind. Frau Merkel muss angesichts der Rolle, die sie wahrnimmt, damit rechnen, dass sie deshalb zur – man kann fast sagen: gehassten, mindestens aber angefeindeten Person wird. Schön, dass diese Anfeindungen nicht auf die deutschen Fußballer übertragen werden.
Anfang der Neunziger, als Franz Beckenbauer vom überlegenen deutschen Fußball albträumte, sorgte Helmut Kohl für europäische Grundlagen, die niemandem auf dem Kontinent Angst machen sollten. Ein Kanzler, der keinen Ärger machte. Würden Sie auch für mehr europapolitische Kuschelei plädieren?
Ich bin nicht fürs Kuscheln bekannt. Ich würde es auch nicht empfehlen, denn wir haben keine Zeit und keine Freiräume mehr. Schwierige Botschaften müssen umgehend formuliert werden. Aber in geschickter Weise. Die Deutschen mit ihrem „tausendjährigen Reich“, das einige in Europa noch nicht vergessen haben, sind besonders Verdächtige – und deshalb in einigen Fällen nicht die idealen Vermittler von bestimmten unkuscheligen Botschaften.
Sie meinen die zur Finanzkrise?
In der Tat. Ich habe von Anfang an gesagt: Nehmt für die Erledigung der Aufgaben lieber den Internationalen Währungsfonds. Eine Institution, die international durch Regierungen repräsentiert ist und die dann nicht das große nachbarliche Deutschland als den bösen Buben leicht identifizierbar macht. Das wäre klug gewesen und wäre es immer noch.
Auf den Fußball bezogen: Welchen Ratschlag würden Sie dem Team um Joachim Löw geben?
Ich würde ihnen vermitteln, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ein nennenswertes Risiko tragen müssen, zu verlieren. Und wenn Löw und seine Spieler dieses Risiko nicht klar genug erkennen und sich innerlich nicht darauf einstellen, dann wird der Fall vom Sockel der Reputation, auf dem sie längst stehen, besonders unsanft ausfallen. Ich würde ihre Erwartungen runtersteuern, ich würde ihre Bereitschaft, zu kämpfen, mobilisieren – zumal mit dem Hinweis auf den Verlust des guten Rufs. Wer hoch steht, kann tief fallen!
Wem drücken Sie, als Europäer, ab Freitag die Daumen?
Den Deutschen, natürlich, da hat auch meine kosmopolitische Prägung durch Achtundsechzig nichts geändert. Philipp Lahm gehört meine besondere Sympathie. Ich bin im Beirat seiner Stiftung. Ein junger Mann, der mit 25 aus dem Einkommen und Vermögen, das er gebildet hat, bereits eine Stiftung für die Integration vor allem von benachteiligten Mädchen gegründet hat. Den bewundere ich sehr. Und ich finde es richtig schön, dass ein so Stiller der Kapitän dieser großartigen Mannschaft ist.
Daniel Cohn-Bendit, wie Sie bekennender Achtundsechziger, begeistert sich für Frankreich. Sie nicht auch ein bisschen?
Ich kann mir vorstellen, dass wir in Europa neben der Achse Berlin–Paris dringend der Achse Berlin–Warschau bedürfen. Insofern könnte ich mich richtig darüber freuen, wenn die polnischen Gastgeber das Rennen machen.
Nur einer kann gewinnen. Wer?
Europa! Wenn man wie ich oft in Asien ist und sieht, wie die Asiaten uns Europäer beispielsweise über die Bundesliga schätzen, dann ist das wirklich etwas, was von Bedeutung ist, neben den großen kulturellen Leistungen, die wir eben auch noch haben. Aber oftmals werden unsere kulturellen Leistungen nur entdeckt, wenn es vorher über etwas so Profanes wie Fußball Aufmerksamkeit für diesen Kontinent gab. Fußball, ein schöner Botschafter.
Wie 2006 bei der WM in Deutschland, beim Sommermärchen.
Oh ja. Und das war deshalb eines, weil es Public Viewing gab – und weil über dieses Public Viewing der Blick der Welt eben nicht nur auf die deutschen Fußballplätze und die Fußballer gerichtet wurde, sondern auf die freundschaftlichen und erfreuten Gesichter eines friedlichen, eines engagierten, eines hoch erfreuten Landes. Diejenigen haben dazu am stärksten beigetragen, die gewöhnlich beim Fußball nicht vermutet werden: die jungen Frauen.
Ein Korrektiv …
… zum Bild der kloppenden, harten Männer wurde stark revidiert. Ein profanes Ereignis wie die EM ist ein idealer Weg, Brücken zu bauen. Vor sechs Jahren waren es die Brücken, die zu unserer Wissenschaft, zu unserer Architektur, zu unserer wirtschaftlichen Leistung führten.
Und Europa – ein Netz von Nationen?
Mehr! Die größte Leistung unseres Kontinents ist die Überwindung der nationalen Gegensätze und die Stärke, die wir aus der Zusammenarbeit ziehen.
Sind Sie stolz, ein Europäer zu sein?
Ja, von Herzen. Ich liebe seine Landschaften, ich liebe seine Architektur, ich liebe europäische Musik. Ich habe ein Leben lang überall in der Welt gearbeitet und wusste, als ich pensioniert wurde, dass mein Standort nicht Tokio und nicht Washington, sondern dieses Mitteleuropa ist. Am liebsten, muss ich gestehen, bin ich irgendwie in gefühlter Nähe zu den Alpen.
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