piwik no script img

„Solidarität bedeutet für mich Bündnispolitik“

Welche Rolle hat der migrantische Feminismus in Deutschland gespielt? Encarnación Gutiérrez Rodríguez, die sich als Kind spanischer Gastarbeiter seit den 1980ern in der Frauenbewegung engagiert, über ihre Vision einer internationalen und transversalen Solidarität

Encarnación Gutiérrez Rodríguez

ist Soziologin. Mit Pınar Tuzcu war sie Heraus­geberin von „Mi­gran­tischer Fe­minismus in der deutschen Frauenbewegung“.

Interview Behshid Najafi

ge­nos­s*in­nen taz: Was bedeutet Solidarität für dich, Encarnación?

Encarnación Gutiérrez Rodríguez: Solidarität bedeutet für mich Bündnispolitik. Das heißt nicht, dass wir über andere oder für andere arbeiten, sondern dass wir miteinander arbeiten. Es geht um ein Tun: Wenn wir anfangen, eine gemeinsame Infrastruktur des Zusammenlebens aufzubauen. Solidarität bedeutet konkret, dass wir nicht alleine den Ort bestreiten, sondern mit allen, die dort kämpfen.

Welche Rolle hat Solidarität in der Frauenbewegung seit den 1980er Jahren gespielt?

Ich war in der Frauenbewegung im migrantischen Kontext aktiv und auch in der Bündnispolitik von Schwarzen Frauen, exilierten Frauen, Sinti und Roma, jüdischen Frauen und migrantischen Frauen. Wir haben angefangen, eine rassismuskritische Analyse von Gesellschaft durchzuführen, die zugleich Klasse, Migration, Nationalität, Religion und auch Behinderung denkt. Der Schwarze Feminismus in Deutschland, der migrantische Feminismus hierzulande, hat von Anfang an Ungleichheit in ihrer Verschränkung thematisiert: Eine Frau war nicht nur Frau, sondern war Mutter, war Schwarz, war Lesbe oder auch arbeitslos. An vielen Stellen war das erfolgreich, weil wir sonst nicht wären, wo wir heute sind.

Bevor der Begriff Intersektionalität verwendet wurde, habt ihr sie gelebt. Wie definierst du diesen Begriff?

Für uns war der schwarze Feminismus, der Chicana-Feminismus in den USA und was damals auch „Dritte-Welt-Feminismus“ hieß, besonders wichtig. Das Combahee River Collective, ein feministisches Lesben- und Frauenkollektiv von Afroamerikanerinnen hat noch nicht von Intersektionalität gesprochen, sondern von verschränkten multiplen Unterdrückungen. Ich finde den Begriff sehr gut für die Analyse gesellschaftlicher Prozesse. Kimberlé Crenshaw hat mittels der Theorie der Intersektionalität später aus einer juristischen Perspektive versucht zu verstehen, wie man auf der Ebene des Rechts Diskriminierung fassen kann, und zwar nicht nur über eine Kategorie wie Frau, sondern auch über die Auseinandersetzung mit Rassismus.

Du bist ein Kind der Arbeitsmigration. Was hat dich am meisten geprägt?

Meine Eltern sind Anfang der 1960er Jahren als Gastarbeiter aus Andalusien nach Bayern gekommen. Wir haben sehr früh angefangen, Übersetzerin für unsere Eltern zu sein. Wir haben stärkeren Zugang zu den Institutionen gefunden, weil wir die Sprache besser beherrschten. Zugleich konnten wir Formen der Diskriminierung und des Ausschlusses identifizieren. Ich habe oft im Beisein meiner Eltern Rassismus erfahren, das hat mich sehr geprägt. Aber auch die Erfahrungen in der Schule. Ich bin 1972 aus Spanien gekommen und konnte noch kein Deutsch. Die Kinder der ArbeitsmigrantInnen galten als diejenigen, die wahrscheinlich gerade mal den Hauptschulabschluss schaffen werden. Ich bin spanische Staatsbürgerin und das ist auch Teil meiner Geschichte: Gestern sind bei dem Versuch, die Grenze in Melilla, einer spanischen kolonialen Exklave, zu überschreiten, mindestens 23 geflüchtete Menschen sind gestorben. Sehr viele Personen sind verletzt worden.

Was ist deine Vision von Solidarität für die Zukunft?

Ich denke, es geht nur weiter voran. Du bist ja selbst mit einem Beitrag in dem von Pınar Tuzcu und mir herausgegebenen Band „Migrantischer Feminismus“ vertreten, der den Zeitraum 1985 bis 2000 umfasst, Behshid. Aber inzwischen ist viel passiert, viele Bewegungen sind aktiv. Diejenigen, die erinnerungspolitisch zu rassistischen Morden arbeiten, die Initiative 19. Februar in Hanau und das NSU-Tribunal, haben sehr viel bewegt. Anderswo zeigen uns die Proteste in Chile, in der Türkei, in Argentinien, dass es eine internationale Bewegung gibt, die sich für soziale Gerechtigkeit und eine Form von transformativer Gerechtigkeit einsetzt – obwohl die Rechte sich immer wieder neu formiert und ihren Machtstatus etabliert. Daher denke ich, dass wir den internationalen und intergenerationalen Dialog, den wir angefangen haben, verstärkt weiterführen müssen und wir mehr voneinander wissen sollten. Wir sollen gemeinsam überlegen, wie wir uns gegenseitig unterstützen. Das ist eine internationale und transversale Solidarität.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen