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Verkehrserziehung vorläufig gerettetVerkehrsschule mit Verfallsdatum

Die Jugendverkehrsschule in Schöneberg soll einem Bürohaus weichen. Aus der Abschieds- wurde an diesem Sonntag aber eine vorläufige Auferstehungsparty.

Übungsfahrt in der Jugendverkehrsschule Foto: Christian Mang

Berlin taz | Das einzige Geräusch ist das Rauschen der Autobahn im Hintergrund. Sonst ist es auf dem Platz der Jugendverkehrsschule am Sachsendamm in Schöneberg mucksmäuschenstill. Hochkonzentriert drehen 27 Viertklässler auf Rädern ihre Runden. Alle tragen Helme und gelbe Warnwesten mit Nummern.

Es gibt eine Ampel, einen Kreisverkehr, einen Zebrastreifen, eine Bushaltestelle und viele Verkehrsschilder – alles wie auf einer richtigen Straße, nur kleiner und komprimierter. „Handzeichen“, ruft Detlef Haake einem Jungen zu, der von der Straße auf den Radweg abbiegt, ohne den Arm auszustrecken.

Haake verfolgt das Geschehen vom Balkon des Schulungsgebäudes aus. Der pensionierte Lehrer hat die Fahrradprüfung am vergangenen Dienstag organisiert, die letzte vor den Sommerferien. Genau genommen ist es eine Nachprüfung, die Kinder sind beim ersten Mal durchgefallen. Zwei Polizisten mit Schreibkladden nehmen die Prüfung ab.

14.000 Schülerinnen und Schüler aus 21 Schöneberger Grundschulen erhalten in der Verkehrsschule am Sachsendamm jedes Jahr Verkehrsunterricht. Die Schule ist eine von insgesamt 25 Verkehrsschulen in Berlin. Betreiber der Einrichtung am Sachsendamm ist die Wendepunkt gGmbH.

Ein Jahr Aufschub

Die hatte am gestrigen Sonntag eigentlich zur Abschiedsparty geladen, denn die Tage der seit den 1980er Jahren in Schöneberg befindlichen Jugendverkehrseinrichtung sind gezählt. „Untergangsparty“ nannte es Wendepunkt-Geschäftsführer Joachim Hampel im Vorfeld gegenüber der taz. Da ahnte er noch nicht, dass die Dinge einen ganz anderen Verlauf nehmen würden. Aus der Untergangsparty mit Luftballons und Grillwürstchen wurde eine Auferstehungsparty.

Die zuständige Baustadträtin Angelika Schöttler (SPD) verkündete die frohe Botschaft am Sonntag höchstpersönlich: Der Standort sei ein weiteres Jahr bis zum Beginn der Sommerferien 2023 gesichert.

Für die Betreiber und Unterstützer der Verkehrsschule waren die letzten Wochen ein Auf und Ab. Die Firma Möbel Krieger, Eigentümerin des Grundstücks, hatte der Einrichtung zu Mitte Juni gekündigt. Um wenigstens noch die Fahrradprüfungen des aktuellen Schuljahrs abschließen zu können, gewährte Krieger bis zum 15. Juli eine Fristverlängerung. Der Bezirk hatte den Aufschub erwirken können.

Die Lage sei kompliziert, so Baustadträtin Schöttler (SPD). Kurz zusammengefasst ist es so: Das Land Berlin hat das Grundstück Anfang der 2000er Jahre an die Firma Krieger verkauft. Gleichzeitig wurde die Firma verpflichtet, auf dem Ersatzgrundstück für die Verkehrsschule, das der Bezirk besorgt, eine neue Verkehrsschule zu bauen. Der Bezirk suche händeringend nach einem Ersatzstandort, sagt Schöttler. Zwei Flächen seien in der engeren Auswahl, weitere würden geprüft

Aber die Geschichte geht noch wei­ter:­ Krie­ger möchte auf der Fläche, auf der sich die Verkehrsschule befindet, ein Bürohochhaus bauen – schräg gegenüber vom firmeneigenen Möbelhaus Höffner, das sich auf der anderen Seite am Voralberger Damm befindet. Ein Gebäude in dieser Höhe sei dort aber nicht genehmigungsfähig, sagt Schöttler. Die Verhandlungen mit Krieger dauerten deshalb an.

Bis sich Bezirk und Firma auf einen Bebauungsplan verständigt hätten, würden „noch Jahre vergehen“, ist sie sicher. Das Grundstück so lange leer zu lassen, mache keinen Sinn. „Das beste Szenario wäre, dass die Verkehrsschule so lange auf dem Grundstück bleiben kann, bis die Bagger kommen.“ Dafür, so die Baustadträtin, „setze ich mich ein“.

Bezirk hat geschlafen

Unschuldig an der Misere ist der Bezirk indes nicht. Obwohl die Pläne von Krieger seit Jahren bekannt seien, „hat es der Bezirk verpennt, sich um ein Ersatzgrundstück zu kümmern“, schimpft Detlef Haake. Dass Krieger der Verkehrsschule nun ein weiteres Jahr Aufschub gewährt, freue ihn, aber die Untätigkeit des Bezirks sei ein Skandal.

Haake, graue Haare, grauer Bart, passionierter Radfahrer, hat 36 Jahre als Lehrer in Neukölln die Verkehrserziehung organisiert, 25 Jahre war er Fachberater für Mobilitätsbildung. Aktuell organisiert er im Auftrag der Verkehrswacht berlinweit Fahrradnachprüfungen, die in den letzten zwei Jahren coronabedingt ausgefallen sind.

Martin Wollny und Yvonne Gutwillige heißen die beiden Polizeibeamten, die an diesem Tag die Nachprüfung abnehmen. Wollny macht das seit 13 Jahren. Seine Beobachtung ist, dass die Kinder kontinuierlich schlechter abschneiden. „Bei dem Computerspiel Fortnite sind sie ganz vorne, aber beim Radfahren und Schwimmen ganz hinten.“

Das Können stehe und falle mit den Eltern. Wenn Sport und Bewegung zu Hause keine Rolle spielten, brauche man sich nicht zu wundern. Das Unvermögen betreffe aber nicht nur Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern. Propeller-Eltern, die ihre Kinder überallhin mit dem Auto brächten, weil sie den Straßenverkehr für zu gefährlich hielten, seien nicht besser.

Kinder, die sich kaum auf dem Fahrrad halten können, könnten sich erst recht nicht auf die Verkehrsschilder konzentrieren, bestätigt Kommissarin Gutwillige. Viele Kinder könnten nicht einmal sagen, wo rechts und links sei. „Wir haben ihnen schon einen Punkt auf Schuhe oder Hand geklebt als Erinnerungsstütze.“ Das Gute sei, dass die Altersstufe der Viertklässler enorm aufnahmefähig sei, sagt Wollny. Und mit der Polizei hätten sie auch keine Probleme, „die finden uns noch richtig gut“.

20 Minuten dauert die Prüfungsfahrt, bei der alle Prüflinge gleichzeitig im Parcours unterwegs sind. Alle vierten Klassen haben Anspruch auf eine Verkehrsbeschulung durch die Polizei, nach mehreren Übungstermine auf dem Platz folgt die Fahrradprüfung. Nachmittags und in Ferienzeiten auch vormittags steht die Verkehrsschule allen Altersgruppen offen, Eltern können mit ihren Kindern dort genauso üben wie Erwachsene. Fahrräder können für das Training auf dem Gelände kostenlos ausgeliehen werden.

Hohe Durchfallquote

„Nummer 8, gut gemacht!“, ruft Haake einer Radfahrerin zu, die vor dem Abbiegen einen vorbildlichen Schulterblick nach links gemacht hat. „Durchhalten,“ muntert er einen Jungen auf, der sich mit seinem Rad, das gefährlich wackelt, mühsam vorwärts bewegt. Endlich ist es vorbei.

Gutwillige ruft die Kinder im Schulungsraum zusammen. Nur 10 der 27 haben die Prüfung bestanden. Tränen gibt es nicht aber die Enttäuschung ist groß. Die meisten hätten kein eigenes Rad zu Hause, sagt eine Mitarbeiterin der Verkehrsschule. Alle könnten wiederkommen, trainieren und es dann noch mal versuchen.

Ein weiteres Jahr lang noch, aber was dann? Seine Sorge sei, dass sich das Szenario im nächsten Sommer wiederholt, sagt Haake. Die zweite Verkehrsschule, die der Bezirk im Stadtteil Mariendorf hat, sei für viele Kinder und Eltern keine Option. „Zu weit weg und total überlaufen“.

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