Weizenkrise durch Ukraine-Krieg: Verfluchte Ernte
Nadiia Iwanowa leitet einen Hof in der Ukraine. Mitten in der Weizenkrise wird sie ihre Ernte nicht los. Aber Iwanowa macht weiter.
A uf dem Hof, gelegen bei Mykolajiw im Süden der Ukraine, stehen in einer Ecke alte, defekte Landmaschinen. Durch eine offene Schuppentür sieht man, wie Männer Getreidesäcke verladen. Katzen und Hunde laufen frei herum, man sieht, dass sie sich hier zu Hause fühlen. Gleich am Eingang steht eine große Voliere, in der Wildtauben und Fasane einträchtig zusammenleben. Es schaut nach ländlicher Idylle aus – wäre nicht 30 Kilometer entfernt die Frontlinie.
Das Mykolajiwer Agrarunternehmen trägt den Namen „Goldener Koloss“, Leiterin ist die 42-jährige Nadiia Iwanowa. Es handelt sich um einen Großbetrieb: Auf zusammen 45 Feldern mit einer Fläche von über 4.000 Hektar bauen sie hier jedes Jahr Sonnenblumen, Weizen, Gerste und andere Feldfrüchte an. Jährlich ernten sie im Schnitt 12 bis 14 Tonnen.
Aber nicht in diesem Jahr.
„Der Krieg hat alles kaputtgemacht. Alle Pläne und Träume“, beginnt Iwanowa das Gespräch. Sie sitzt in ihrem Büro am Schreibtisch, zwei ihrer Kollegen sind dazugekommen. Während sie erzählt, wird sie ständig vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Das ist wenig erstaunlich, denn in ihren Getreidespeichern lagern noch einige tausend Tonnen der Ernte vom Vorjahr, die dringend weiterverkauft werden müssen, um die Silos frei zu machen. In den nächsten Tagen beginnt die erste Ernte dieses Jahres, die man aber nirgendwohin exportieren kann. Und sie lässt sich auch nicht lagern, denn dafür gibt es nicht genügend Platz in den Silos.
„Es sieht so aus, als hätte ich einen potenziellen Käufer gefunden, der bereit ist, ein bisschen Sonnenblumenkerne abzunehmen“ – sagt Nadiia Iwanowa, als sie den Telefonhörer auflegt. Sie klingt erleichtert, fügt aber gleich hinzu: „Aber das ist natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Diesen Satz werden wir während unseres Gespräches noch öfter hören.
„Goldener Koloss – goldene Garantie für Ihre Ernte“ – das ist das Firmenmotto von Iwanowas Betrieb. In all den 19 Jahren, in denen sie für das Unternehmen verantwortlich ist, hat sie sich darum bemüht, dieses Versprechen einzuhalten. Es bedeutet, rechtzeitig die Felder zu bestellen, zu düngen, zu säen, eine qualitativ hochwertige Ernte einzubringen und diese gewinnbringend zu verkaufen.
Wie immer hatten sie im letzten Herbst Getreide ausgesät. Im März hatten sie dann Sonnenblumen säen wollen. Aber dieses Mal lief nichts planmäßig. „Am 24. Februar, als schon klar war, dass der Krieg uns erreicht hatte, sind wir trotzdem aufs Feld gegangen. Die russischen Maschinen flogen schon über unsere Köpfe hinweg, aber wir haben trotzdem die Äcker bestellt. So war es auch noch am folgenden Tag“, erinnert sich die Großbäuerin. Aber mit jedem weiteren Tag habe sich die Situation verschlechtert, die Arbeiter mussten sich im Keller verstecken. Schließlich beschlossen sie, ganz mit der Arbeit aufzuhören.
Anfang März kam die Frontlinie immer näher an Nadiias Iwanowas Felder heran, und am 6. und 7. März wurde der Beschuss so intensiv, dass sogar einer ihrer Außenposten getroffen wurde, der nur wenige Kilometer von ihrem Büro entfernt und in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer Felder lag.
Zerstörte Maschinen, beschädigte Speicher
„Schaut euch an, was ich jetzt Hübsches statt des Getreidereinigers habe“, sagt Iwanowa ironisch und zeigt auf eine verkohlte zweistöckige Konstruktion. Die Maschine hat einen Treffer abbekommen. Repariert werden kann sie nicht. Jetzt hat der Betrieb keine Möglichkeit mehr, sein Getreide zu reinigen. Auf die Frage, wie sie den Brand gelöscht haben, antwortet Iwanowa: „Gar nicht. Das Feuer ist von selbst ausgegangen.“ Während der Zeit der starken Kampfhandlungen konnten die Feuerwehrleute nicht die Wohngebiete erreichen, schon gar nicht die landwirtschaftlichen Betriebe.
Granatsplitter haben an praktisch allen Gebäuden auf dem Betriebsgelände Schäden angerichtet. Am stärksten betroffen sind die Lagerhalle für die Ernte und die Maschinenhalle. Als wir mit Nadiia Iwanowa in den großen Hangar gehen, schaut sie kurz hoch und sagt: „Jetzt habe ich hier mein eigenes Stück Sternenhimmel.“ Folgt man ihrem Blick, versteht man sofort, was sie meint. Das schwarze Dach ist vollkommen durchlöchert. Durch die kleinen Löcher fallen Sonnenstrahlen ins Innere.
Wir laufen weiter in den Hangar hinein, und Iwanowa führt einen Traktor vor, eine Mähmaschine, ein Spritzgerät und andere Maschinen. „Nicht ein einziges meiner Geräte hat überlebt. Bei den einen sind die Fenster kaputt, bei dem anderen der Treibstofftank, und wieder andere sind einfach komplett im Eimer“, erkärt die Bäuerin. Besonders traurig ist sie über den großen neuen Traktor, den sie erst im vergangenen Jahr für eine Viertelmillion Euro gekauft hatte. Er hat keine Fenster mehr, ist rauchversengt und steckt voller Granatsplitter.
„Er hat nur einige Felder bearbeiten können, gleich nachdem wir ihn gekauft hatten“, sagt Iwanowa. Sie erklärt, dass die Spezialisten, die solche Maschinen reparieren können, aus Furcht vor der nahen Front ihren Auftrag absagten, sobald sie hörten, das sie dafür nach Mykolajiw müssten. „Das ist kein Garantiefall. Deshalb bemühen sich meine kreativen Mitarbeiter, das selbst zu reparieren. Sie haben Möglichkeiten gefunden, wo man geeignetes Glas schmelzen und wie man Löcher flicken kann“, erzählt sie stolz. Aber gleichzeitig muss sie eingestehen, dass es jetzt sehr schwierig sei, Ersatzteile zu bekommen, weil die entsprechenden Firmen auch nicht mehr gern in ihre Gegend kämen. Und in Läden sei so etwas derzeit nicht zu finden.
„Und das ist auch meine Ernte!“,sagt Nadiia Iwanowa und zeigt auf etwas neben sich. Auf einer niedrigen Kiste liegt der Torso einer Rakete, die dem sowjetischen Mehrfachstartraketensystem „Grad“ ähnelt. „Das haben unsere Bauern auf dem Feld gefunden und hierher gebracht.“ Sie besitze schon eine ganze Sammlung verschiedener Raketentypen, die sie alle auf den Feldern gefunden haben. „Da ragten alle möglichen Dinge aus dem Boden heraus: 30 Zentimeter, 50 Zentimeter und bis zu einem Meter“, berichtet sie.
Eines Tages war es so weit, dass russische Soldaten auf die Felder kamen, erzählt Iwanowa. Wegen der Kämpfe war in dieser Zeit kein Arbeiter in den Betrieb gekommen. Man habe sich zu Hause im Keller versteckt, so auch sie selbst. Dass Maschinen und Geräte verschwunden waren, entdeckten sie erst, als die russischen Soldaten sich wieder zurückgezogen hatten. „Arbeitsmaschinen, Sägen und anderes Werkzeug haben sie beim Abzug mitgenommen“, sagt Iwanowa.
Nadiia Iwanowa über ihre neuen Feldfrüchte
„Kommt, ich zeige euch unsere Felder“, lädt sie ein. Das nächstgelegene Weizenfeld liegt gleich nebenan. Iwanowa geht zwei, drei Meter auf das Feld. „Keine Angst, kommt mit. Die Felder wurden von Minen geräumt. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht auch noch Überraschungen geben kann“, sagt sie. Aber die Minenräumtrupps seien eigentlich schon auf allen Feldern gewesen. „Was sie da alles gefunden haben! Minen, nicht detonierte Granaten und mehrere Kisten mit Patronenhülsen“, erzählt Iwanowa im Weitergehen.
Nach wenigen Metern bückt sie sich und hebt etwas von der Erde auf. „So was findet man hier immer wieder“, sagt sie und zeigt die Hülse einer großkalibrigen Granate. Wenn eine Mähmaschine über solche Metallteile fährt, muss sie anschließend repariert werden.
„Diesen Weizen werden wir in einigen Wochen ernten“, sagt die Bäuerin und zupft zärtlich an einer Ähre. Sie zerdrückt sie in der Hand und bietet sie uns zum Probieren an. „Schmeckt ihr das? Die ist noch nicht reif.“ Dann schlägt Iwanowa vor, ein paar Kilometer weiter zu fahren und den Beginn der Ernte zu beobachten.
Das Gerstenfeld strahlt in der Sonne, weiter entfernt fährt ein Mähdrescher und mäht die kostbaren Ähren ab. Noch weiter entfernt erkennt man Menschen.
Als sie unsere fragenden Blicke sieht, erklärt Iwanowa: „Ja, das sind Soldaten. Hier verläuft eine der Verteidigungslinien.“ Sie berichtet, dass ein großer Teil der Felder von Wassergräben und Schützengräben durchzogen sei. Die russisch besetzten Gebiete der Region Cherson seien nur 15 bis 20 Kilometer entfernt. „So sind die Zeiten. Diese Gräben werden für unsere Verteidigung benötigt, und wir alle haben dafür Verständnis“, sagt Iwanowa kurz und schaut auf die schwarze Rauchwolke am Horizont.
Nur eine Stunde vor Beginn unseres Besuchs lag der Bauernhof bei Mykolajiw unter Raketenbeschuss. Eine Rakete ist direkt in einen Tank mit Sonnenblumenöl eingeschlagen. Die Landwirtin schaut zum Horizont. „Hier ist mein Gerstenfeld, dort sind die Schützengräben, hier bringt ein Mähdrescher die Ernte ein, und dort verbrennt das Getreide der ukrainischen Landwirte“, erklärt sie die surreale Situation vor unseren Augen.
Die Seeblockade
Neben den Kampfhandlungen und ihren Folgen sind die durch Russland blockierten Seehäfen ein ebenso großes Problem für die ukrainische Landwirtschaft. Etwa 25 Million Tonnen Ernteerträge vom letzten Jahr, die schon kurz vorm Export standen, müssen gezwungenermaßen im Land verbleiben. Hinzu kommen weitere 1,5 Millionen Tonnen Getreide in den erst kürzlich besetzten Gebieten. Nach Angaben des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums hat Russland rund 400.000 Tonnen dieses Getreides auf sein Staatsgebiet verbracht und versucht jetzt, es zu verkaufen.
Die von Russland geschaffene Lebensmittelkrise werde bald weltweit zu spüren sein, meint Nadiia Iwanowa. „Das ist einfach absurd! Die Welt hungert, und wir haben keinen Platz mehr in den Speichern, um weiteres Getreide dort einzulagern!“, empört sie sich auf ihrem Getreidefeld.
Derzeit bemüht man sich in der Ukraine und in weiteren Ländern, alternative Transportwege für das Getreide zu finden, etwa mit Binnenschiffen von Rumänien aus über die Donau und per Lastwagen und Eisenbahn in andere Staaten der Europäischen Union.
„Aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, meint Iwanowa. „Die Flusshäfen sind nicht für solche großen Mengen ausgelegt. Lastwagen stehen wochenlang Schlange vor den Grenzübergängen, was die Produktionskosten mit jedem Tag erhöht. Nicht alle Lkw-Fahrer möchten überhaupt noch nach Mykolajiw kommen. Viele bitten darum, dass sie ihre Wagen im weniger gefährlichen Odessa beladen können – aber das kostet zusätzlich Geld, das wir nicht haben.“ Eine Zugfahrt ins EU-Ausland hin und zurück dauere etwas 80 bis 90 Tage. „In dieser Zeit ist mein Mais schon zu Popcorn geworden“, sagt Iwanowa.
Sie hält auch die Möglichkeit eines Militärkonvois für ukrainische Frachtschiffe für unwahrscheinlich. „Nato-Konvois sehe ich nicht am Horizont. Ich denke nicht, dass das Meer in nächster Zukunft von Minen geräumt wird und so die Möglichkeit eines sicheren Korridors geschaffen werden kann“, meint sie und erinnert daran, dass man zum Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur der ukrainischen Häfen auch Zeit und finanzielle Mittel benötige. Sie spricht auch über die finanziellen Aspekte eines solchen Korridors: „Selbst wenn ein solcher Korridor eingerichtet würde, stehen die Schiffe nicht gleich Schlange in den Häfen. Die einen Reeder werden schlicht und ergreifend Angst haben, sich darauf einzulassen. Und die mutigen, die auf jeden Fall fahren würden, werden dafür sehr viel Geld verlangen.“
Nadiia Iwanowa über die unsichere Zukunft ihres Unternehmens „Goldener Koloss“
Dennoch hat Nadiia Iwanowa nicht nur mit der Ernte des Getreides begonnen, das sie im letzten Herbst ausgesät hatten. Die Landarbeiter haben es auch gewagt, Sonnenblumen zu säen, die im September erntereif werden. „Viele Traktoristen hatten Angst, auf die Felder zu fahren. Am Anfang war es schwierig, die psychischen Hemmschwellen zu überwinden. Einigen habe ich sogar gesagt, dass ich mich, wenn sie sich zu sehr fürchten, zu ihnen in die Traktorkabine setze. Aber dann haben sich alle langsam an die neue Situation gewöhnt, auch wenn die Angst nie ganz verschwunden ist.“
„Ich habe vor zu überleben“, sagt Nadiia Iwanowa entschlossen und meint damit nicht nur ihre eigene körperliche Unversehrtheit, sondern auch den Erhalt ihres Unternehmens. Den Export des größten Teils ihrer Ernteerträge hat sie für dieses Jahr abgeschrieben. Wo und wie sie das Korn lagern wird, weiß sie noch nicht. Dafür eine Lösung zu finden ist ihre wichtigste Aufgabe. „Ich habe diesen Betrieb aufgebaut. Ich habe das wirklich mit Herzblut getan. Wir haben eine Belegschaft mit 76 Leuten. Ich muss für sie sorgen und sie schützen. Ich habe ihnen ehrlich gesagt, dass ich möglicherweise kein Gehalt zahlen kann, aber ich werde jeden von ihnen mit Lebensmitteln versorgen“, erklärt die Betriebsleiterin lächelnd und erinnert daran, dass der Tauschhandel mit Lebensmitteln noch nicht abgeschafft worden ist.
Iwanowa sagt, dass Kollegen sie oft fragen, für wen sie säe und ernte, wo die Lage doch so schwierig sei und die Frontlinie sich in jedem Augenblick verschieben könne. Die Landwirtin aus Mykolajiw sagt, dass sie darauf immer die gleiche Antwort gibt: „Ich glaube an die ukrainische Armee.“
Bevor wir in ihr Büro zurückgehen, schaut sie noch einmal in die Ferne. Dann dreht sie sich um und sagt leise und mit einem Lächeln: „Wir kommen mit allem zurecht. Eine andere Möglichkeit haben wir gar nicht.“
Aus dem Russischen: Gaby Coldewey
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