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Es war eine Revolution

In der Ausstellung „Die Form der Freiheit“ rollt das Museum Barberini in ganz großem Maßstab die Geschichte der Abstraktion nach dem Zweiten Weltkrieg auf

„Centre de Dominance“ heißt das Bild von Judit Reigl aus dem Jahr 1958, VG Bild-Kunst, Bonn 2022 Foto: Georges Meguerditchian/BpK

Von Ingo Arend

„Wir sind aufgewachsen im Nichts, in einer kulturellen und moralischen Wüste. Malen! Ich versuche zu malen, ich habe mir in den Kopf gesetzt, ein guter Maler zu werden, ist das nicht Wahnsinn nach allem, was geschehen ist?“ Nach dem Zweiten Weltkrieg war Winfred Gaul, der Autor des Zitats, verzweifelt. 1928 in Düsseldorf geboren, musste er noch 1944 als 16-Jähriger an die Ostfront. Nach dem Kunststudium schloss er sich 1955 der Künstlerbewegung Informel an, dem europäischen „Zweig“ der Abstraktion.

Diese wird heute meist als formale Spielerei ohne gesellschaftliche Relevanz abgetan. Es ist nicht das geringste Verdienst der Ausstellung im Potsdamer Museum Barberini, dem privaten Kunstmuseum des IT-Unternehmers Hasso Plattner, dass sie die politisch-existenziellen Motive hinter der Loslösung von der Gegenständlichkeit sichtbar macht. Der Versuch eines ästhetischen Neuanfangs war auch eine Reaktion auf das Trauma des Nationalsozialismus.

Das einte einen Maler wie den Deutschen Winfred Gaul, den immerhin der US-Kritikerpapst Clement Greenberg 1961 zu einer Residency in die USA einlud, mit einem Mann wie Jackson Pollock, dem amerikanischen Halbgott des Abstrakten Expressionismus mit seinem Interesse am kollektiven Unbewussten, oder mit einem Künstler wie Wols. Die schrundigen Leinwände des 1912 in Berlin geborenen und 1932 nach Paris emigrierten Künstler erinnerten an klaffende Wunden.

In der öffentlichen Wahrnehmung gilt der Abstrakte Expressionismus gemeinhin als Produkt des „all american boys club“ von Pollock bis Rothko. Zu den nachgerade sensationellen Seiten der Schau gehört die Erkenntnis, wie stark Frauen, vor allem aus Osteuropa, an seiner Entstehung beteiligt waren.

Programmatisch eröffnet Kurator Daniel Zamani die Schau mit Janice Bialas „Stillleben mit drei Gläsern“ aus dem Jahr 1962. Das Bild der 1903 im damals noch zu Russland gehörenden Polen geborenen jüdischen Künstlerin, die im Jahr 1913 in die USA auswanderte, zeigt den freien Umgang mit Form und Farbe.

Obwohl die enge Freundin Willem de Koonings zum engeren Umfeld der Abstrakten Expressionisten zählte, wurde sie von Kritikern wie Harold Rosenberg, der 1952 den Begriff des Action Painting prägte, damals kaum beachtet.

Hierzulande unbekannt sein dürfte auch die Künstlerin Janet Sobel. Zamani stellt das fein verschlungene Werk „Illusion der Festigkeit“ von 1945 der 1893 geborenen, ukrainisch-amerikanischen Künstlerin einem der Werke Jackson Pollocks gegenüber. Von ihr bezog er die Inspiration zu seinen Drippings.

Der Versuch eines ästhetischen Neuanfangs war auch eine Reaktion auf das Trauma des Nationalsozialismus

So beredt, opulent und qualitätsvoll die Ausstellung anhand von 97 Werken von 52 Künst­le­r:in­nen die Entstehung einer neuen Kunstauffassung von der impressionistisch geprägten Farbfeldmalerei eines Sam Francis bis zu der Aktionsmalerei des deutschen Informel à la K. O. Götz oder Bernard Schultze auffächert, so indifferent bleibt sie gegenüber ihren ideologischen Implikationen. Die Instrumentalisierung von expressiver Gestik und individuellem Ausdruck als Symbol politischer Freiheit und „Waffe im Kalten Krieg“ (so die US-Street-Art-Künstlerin Eva Cockroft) durch die CIA ist mittlerweile gut dokumentiert. Das unausgesprochene Fazit der Schau ist, dass diese Kunstrichtung viel zu vielgestaltig war, als dass sie so umstandslos als Propagandakunst abzutun wäre, wie das im kritischen Kunstdiskurs gelegentlich geschieht.

In der Tat stand der Abstrakte Expressionismus in all seinen Facetten dem humanistischen Existenzialismus eines Jean-Paul Sarte oder Albert Camus näher als dem heroischen Individualismus des American Way of Life. Dennoch bleibt es ein Dilemma der Ausstellung, dass die Schau schon im Titel den Mythos der „Abstraktion als Weltsprache“ reproduziert – eine Setzung, die in einem Moment der Dekolonialisierung des westlichen Kunstkanons fragwürdig erscheint. Denn Abstraktion wird hier rein westlich definiert und rekonstruiert.

Gerade weil Kurator Daniel Zamani diese Kunstrichtung aber nicht als transatlantisches Schisma und US-Triumph, sondern als „kreatives Wechselspiel“ zwischen den (meist eng befreundeten) Künst­le­r:in­nen in den USA und in Westeuropa zeigen will, hätte es nahegelegen, auch die außereuropäischen Verbindungen anzudeuten.

Kein Zweifel: Diese Kunstrichtung war nichts weniger als eine Revolution. Sie brach radikal mit der kunsthistorischen Tradition, schaffte eine hierarchiefreie Kunst von unerhörter Suggestivwirkung und Energie. Global gesehen ist sie aber nur eine Form, ein Teil der Freiheit.

Die Form der Freiheit. Internationale Abstraktion nach 1945. Museum Barberini, Potsdam. Noch bis zum 25. September. Katalog, Prestel-Verlag, 34 Euro

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