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Bildung in KolumbienAbi mitten im Krieg

Der Wahlsieg des Ex-Guerilleros Petro in Kolumbien nährt Hoffnung auf Frieden – und mehr Chancengleichheit. Doch die wird schwierig umzusetzen.

Schüler der Schule La Playa in El Palo Foto: Knut Henkel

Toribío taz | Fidel Martínez ist ein umsichtiger Mann, der sich im kolumbianischen Cauca auskennt. Doch auf halber Strecke Autofahrt nach Toribío sieht er die Transparente zu Ehren von Manuel Marulanda sieht. „Ach, das habe ich vollkommen vergessen. Heute ist der Todestag des FARC-Gründers. Die dissidenten Guerilleros zeigen Präsenz“, ärgert sich der Direktor der Menschenrechtsorganisation Tierra de Paz, Land des Friedens.

Martínez ist regelmäßig im Norden des Verwaltungsbezirks Cauca unterwegs, eine Region südlich der Millionenmetropole Cal. An diesem Tag steht ein Schulbesuch in El Palo auf dem Programm. Das Dorf in den zerklüfteten, von Regenwald bedeckten Bergen liegt mitten in der roten Zone. So werden in Kolumbien die Risikogebiete genannt, wo sich schwerbewaffnete Verbände von Guerilla, Paramilitärs, Drogenbanden und Armee Gefechte um die Kontrolle der Region und der dazugehörigen Drogenrouten liefern. Rund um die Kleinstadt Toribío ist die Situation seit Jahren wieder brisant. Dort hat der Krieg gerade ein paar Monate Pause gemacht.

Der Grund dafür ist auf den Berghängen zu sehen, wo immer wieder Treibhäuser das Sonnenlicht reflektieren. „Nachts sieht es hier aus wie in Paris, Wärmelampen und Scheinwerfer sorgen für ein beeindruckendes Ambiente“, erklärt Martínez. Er ist in der Gegend aufgewachsen, lebt aber hundert Kilometer weiter südlich in Popayán, der Hauptstadt der Region.

Ein Arbeitsschwerpunkt der NGO liegt im Norden des Cauca, wo indigene und afrokolumbianische Gemeinden die Mehrheit stellen. Sie werden bei der Schaffung eigener Strukturen unterstützt. Hinzu kommt die Hilfe für Flüchtlinge aus der Region, aber auch aus Venezuela und die Förderung einzelner Schulen in besonders konfliktreichen Gemeinden. So wie „La Playa“, die Schule in El Palo. „Hier sorgen die Hilfsgelder unseres Partners der Diakonie Katastrophenhilfe dafür, dass Menschen aus der Region Toribío das Abitur nachholen können“, sagt Martínez und parkt den weißen Geländewagen gleich neben dem Schultor.

Traum vom eigenen Unternehmen

Zona Escolar, Schulzone, steht auf einem großen Schild gegenüber des Eingangs zur Schule. Darunter ist in einem roten Kreis ein Maschinengewehr zu sehen, das mit einem dicken roten Balken durchstrichen ist. „No Armas“, keine Waffen, steht in dicken Lettern darunter. „Notwendige Vorkehrungen“, meint Rektor Hernán Chocué mit einem entschuldigenden Schulterzucken, als er die Besucher in Empfang nimmt. „Die Situation hier im Norden des Cauca ist seit Monaten brisant – allein seit Jahresbeginn hat es hier 15 Morde an indigenen Repräsentanten gegeben“, so Chocué.

Er gehört wie alle Lehrer und nahezu alle Schüler der Ethnie der Nasa an. Dann weist er den Weg in einen der Klassenräume, wo ein Dutzend älterer Schüler der Lehrerin lauschen. Unter ihnen ist Francisco Dagua, ein kräftiger Mann von Ende 20, der die Besucher genauso neugierig mustert wie der Rest der Klasse. Die macht in diesem Jahr Abitur und die Prüfungen stehen zwischen Juli und Dezember an. Manche Schüler verbinden damit die Hoffnung, mal etwas anderes zu sehen als nur die abgelegenen Dörfer rund um Toribío. „Die Chance, hier das Abi nachzuholen, habe ich sofort ergriffen, um meinen Traum vom eigenen Unternehmen in die Realität umzusetzen. Dazu will ich etwas mit Wirtschaft studieren“, erklärt Dagua. Unter seinem kleinen Schulpult lugen die groben Gummistiefel hervor, so wie bei etlichen Schülern der Klasse.

Festes Schuhwerk ist alternativlos, denn die Infrastruktur rund um die Dörfer besteht in aller Regel aus lehmigen Pisten, die bei Regen zu schmierigen Rutschbahnen mutieren. Das ist derzeit oft der Fall. Doch es hätte schon lange anders sein sollen, denn im Friedensvertrag zwischen Regierung und der FARC-Guerilla vom November 2016 ist eindeutig fixiert, dass gerade in den Konflikt-Regionen kräftig in Infrastruktur, Bildung und Entwicklungsprogramme investiert werden soll. Der Cauca gehört dazu. Doch vor Ort ist davon wenig zu sehen. Das trägt dazu bei, dass der Krieg zurückgekehrt ist.

„Ein paar Monate war es ruhig, man konnte sich frei bewegen,“ erinnert sich Dagua, Sohn einfacher Bauern. Die konnten sich den Schulbesuch aller ihrer sechs Kinder schlicht nicht leisten. Der älteste, sein Bruder Francisco, musste auf dem Feld mithelfen. Das will er nun den eigenen Kindern ersparen. „Er soll es besser haben“, hofft Dagua. Doch sonderlich optimistisch ist seine Mine nicht. Seine Hoffnungen haben längst einen Dämpfer erhalten. „Hier gehen alle wieder in Deckung. Die Straßensperren mit den Kontrollen von Armee, Guerilla und auch Paramilitärs sind wieder zurück und mit ihnen die Gefechte“, erklärt er. Zwei Mitschüler, Nancy Velasco und Jairo Umenzu nicken zustimmend, wollen sich aber erst äußern, nachdem ihnen Anonymität zugesichert wurde. „Sonst rupfen sie uns“, warnt Jairo mit ernster Mine.

Wunsch nach Wandel im ganzen Land

Sie, das können alle bewaffneten Akteure in der Region sein. Für die ist die Region attraktiv, weil die Topographie und das Klima den Anbau von Marihuana und Koka, deren Blätter zu Kokain verarbeitet werden, begünstigt. Die zerklüfteten Berge, mit den tiefen Taleinschnitten sind kaum zu kontrollieren und längst hat die Produktion professionelle Strukturen, bestätigt Rektor Chocué später vor versammeltem Kollegium. Wie die illegale Ware die Region trotz massiver militärischer Präsenz wieder verlässt, ist ein offenes Geheimnis. Das traut sich jedoch kaum jemand auszusprechen. Auch ein Grund, weshalb die drei Schüler für einen politischen Wandel im Land plädieren.

Der Pacto Histórico steht für eine bessere Bildung, soziale Investitionen und die Unterstützung der armen Bevölkerungsschichten – er ist mein Kandidat

Jairo Umenzu, Abiturient der Schule „La Playa“

„Der Pacto Histórico mit dem Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro steht für eine bessere Bildung, soziale Investitionen und die Unterstützung der armen Bevölkerungsschichten – er ist mein Kandidat“, erklärt der hagere Jairo Umenzu. Nancy Velasco ergänzt: „Der Pacto ist für mich so glaubwürdig, weil die Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, Francia Márquez aus dem Cauca stammt – aus Suárez und von unten“. Sie ist ein Grund, weshalb die Wahlbeteiligung im Cauca schon bei den Parlamentswahlen am 13. März über dem nationalen Schnitt lag und wo der Pacto Histórico mit 35 Prozent die stärkste Partei stellte. Bei den Präsidentschaftswahlen hat sich nun gezeigt, dass der Wunsch nach Wandel auch im ganzen Land besteht. Gustavo Petro hat ein historisches Wahlergebnis eingefahren. Als erster Ex-Guerillero ist er zum Präsidenten Kolumbiens gewählt worden. Im August tritt Petro sein Amt an.

Für viele an der Schule entscheidet diese Wahl über die Zukunft des Landes. Ein Grund, warum Fidel Martínez den Schülern bei seinem Besuch in El Palo ins Gewissen redet. Die Wahlen seien das eine, die eigene Zukunft das andere und dafür sei die Bildung nun mal das Trampolin.

Bei Schülern wie Francisco Dagua kommt das an. „Er hat ja Recht, aber wir sind es, die mitten im Krieg leben. Ich trau mich ja kaum in die nächstgrößere Stadt Santander de Quilichao zu fahren, weil ich Angst habe, an einem Kontrollposten aussortiert zu werden“. Früher sei klar gewesen, wer wo die Kontrolle gehabt habe, jetzt sei es unübersichtlich. Die Zahl der Akteure sei gestiegen. Zuletzt auch die Zahl der Morde sowie die der Gefechte in der Region.

Das weiß auch Fidel Martínez. Auf dem Rückweg fährt er erst an einer Handvoll FARC-Dissidenten vorbei, dann an einer Armee-Einheit. Eine halbe Stunde später informiert ihn ein Kollege, dass es ein Gefecht gegeben habe. Bittere Realität rund um Toribío.

Auch Martinez hat registriert, wie differenziert an der Schule „La Playa“ diskutiert wird. „Das ist ein Fortschritt und ein Erfolg des engagierten Kollegiums“, lobt er. Immerhin ein Erfolg in einer Gegend, die kaum etwas Positives zu vermelden hat.

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