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Die Grenzen des britischen StoizismusAufräumen nach der Party

Buhrufe für Boris Johnson – von konservativer Seite. Ist das ein Omen, dass es ihm schon bald ähnlich ergehen könnte wie einst Margaret Thatcher?

Vielleicht bald nicht mehr Premier: Boris Johnson Foto: Hannah McKay/File Photo/rtr

D er letzte Zug von London King’s Cross nach Cambridge geht um 23.59 Uhr. Die meisten Fahrgäste sind um diese Zeit todmüde. Ein junges Pärchen war es nicht. Es fing an, im hinteren Teil des Großraumwagens lauten Sex zu haben.

Die Mitfahrenden ignorierten die Aktion stoisch. Nach fünf sehr langen Minuten war es vorbei. Im Großraumwagen herrschte eisernes Schweigen. Dann zündete sich der Mann eine post­koitale Zigarette an, und ein Sturm der Entrüstung brach los. Das Paar musste an der nächsten Station aussteigen.

Die Geschichte sagt viel über die Briten aus. Sie tolerieren einiges, aber irgendwann ist eine Grenze erreicht und die Stimmung kippt. Als der Erzbischof von Canterbury Justin Welby letzte Woche Prinz Andrew in Schutz nahm und an die christliche Tugend der Vergebung erinnerte, löste er einen Shitstorm aus.

Andrew hat sich nicht gerade als reuig erwiesen (was eine Voraussetzung für Vergebung wäre), und auch die Anglikanische Kirche hat Fälle des Missbrauchs von Schutzbefohlenen bis heute nur unzureichend aufgeklärt. Die Opfer konnten Welbys Argumentation daher nicht folgen. Tatsächlich geht es jedoch bei der großen Frage, wer wem vergeben darf, um einen sehr viel wichtigeren Mann: den Premierminister.

Buhrufe in St. Paul's

Der Ukrainekrieg hatte Boris Johnson eine vorübergehende Verschnaufpause verschafft. Als er jedoch letzten Freitag zum Thronjubiläum in St. Paul’s erschien, wurde er beim Betreten und beim Verlassen der Kathedrale mit Buhrufen konfrontiert. Da es sich bei den Zuschauern von royalen Feierlichkeiten tradi­tionsgemäß nicht um linke Anarchisten handelt, haben diese Buhkonzerte eine starke Aussagekraft.

Hier buhten patriotische Briten, die sonst dem konservativen Spektrum zuzuordnen sind. Auch die neuesten Umfragewerte zeigen, dass die Liebesbeziehung zwischen der Falstaff-Figur Boris und seinen treuesten Wählern vor dem Kollaps steht.

Johnson hatte bekanntermaßen im Parlament abgestritten, während des Lockdowns verbotene Partys gefeiert zu haben. Nachdem die Polizei ermittelt hatte, zahlte er für das Abhalten seiner Geburtstagsparty eine Geldstrafe.

Er hatte im Unterhaus also die Unwahrheit gesagt, und mittlerweile wissen wir, dass während der Pandemie nicht nur Geburtstagspartys in Nr. 10 gefeiert wurden. Bei zahlreichen weinseligen Festen gerieten Mitarbeiter aneinander und beleidigten anschließend noch die Reinigungskräfte, die den Dreck aufwischen mussten.

Verbale Entgleisung

Dass Carrie Johnson, die Frau des Premierministers, 2020 eine Abba-Party organisierte, um den Rauswurf ihres Intimfeindes Dominic Cummings zu begießen, ist zwar menschlich nachvollziehbar (Cummings hatte sie als durchgeknallte „Prinzessin Nut-Nut“ bezeichnet). Da jedoch zur gleichen Zeit der Rest der Bevölkerung nicht einmal sterbende Verwandte besuchen, geschweige denn Partys feiern durfte, halten sich Gefühle der Vergebung in Grenzen.

Stattdessen werden seit Wochen konservative Abgeordnete in ihren Wahlkreis-Sprechstunden aufgefordert, sich gegen den Premier zu stellen. Werden sie also dem Druck ihrer wütenden Wähler folgen und Boris stürzen? Glauben sie, mit ihm keine Wahl mehr gewinnen zu können?

30 konservative Abgeordnete haben mittlerweile öffentlich gefordert, der Premier solle zurücktreten, 18 weitere haben ihn kritisiert. Damit werden Erinnerungen an Margaret Thatchers letzte Amtszeit wach. Auch sie musste 1990 gegen „Parteifreunde“ kämpfen. John Major versicherte ihr zwar damals, fest an ihrer Seite zu stehen, verschwand dann aber im entscheidenden Moment zu einer längeren Zahnbehandlung. Kurz darauf wurde er, mit neuen Zähnen, Thatchers Nachfolger.

Johnson könnte es mit seinen Parteifreunden bald sehr ähnlich ergehen. Er scheint den Ernst der Lage noch nicht ganz verstanden zu haben. Beim Dankgottesdienst für die Queen las er – frei von Ironie – ausgerechnet die Zeile aus dem Philipperbrief des Paulus 4,8 vor: „Weiter, Brüder, was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat … darauf seid bedacht!“

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2 Kommentare

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  • Ich mag die Briten!



    Aber sie haben bizarre Bräuche.



    Die Bärenfellmützen der Soldaten beispielsweise. Die Jubelparties zur Monarchie. Die tiefe, tiefe Trauer um Lady Di.



    Und nicht zu vergessen der berüchtigte Lammbraten mit Pfefferminzsauce.



    London ist eine aufregende Stadt. Dort zu wohnen wäre mir angenehm. Nur ist es leider viel zu teuer.

  • Jetzt weiß ich, warum Boris J. so oft die Haare zu Berge stehen.



    Er ist von seinem eigenen Handeln entsetzt.