Archäologie im Alltag: Es geht um die Wurst
Goldene Masken und üppige Grabbeigaben, so stellen wir uns archäologische Entdeckungen häufig vor. Dabei liefern vor allem Müll und Kot Erkenntnisse.
Von wegen hippe Metropole. Im Spätmittelalter war Berlin noch eine kleine, unbedeutende Siedlung, weit entfernt von der Strahlkraft norddeutscher Hansestädte. Auch auf Berliner Tellern landete eher Hausmannskost als internationale Food-Trends. So ließen sich die Forschungsergebnisse von Michèle Dinies, Botanikerin an der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Archäologischen Institut, etwas flapsig zusammenfassen.
Auf dem Labortisch der Botanikerin landen ganz besondere Spuren der Berliner Gründungsgeschichte, nämlich die Inhalte mittelalterlicher Kloaken, Alltagsmüll, Essensreste, menschliche Exkremente.
Wer beim Lesen angeekelt das Gesicht verzieht, liegt falsch. „Da müffelt nichts mehr. Die Hinterlassenschaften sind teilweise zersetzt und zeichnen sich nach einigen hundert Jahren nur noch im Boden ab. Die Schicht ist etwas brauner als der Rest“, sagt Dinies.
Holzplanken begrenzten die Abfallgruben, manchmal finden sich auch Kalkschichten im Abfall, vermutlich um den Gestank zu mindern. Beides finden die Archäologen oft noch gut erhalten, zusammen mit dem organischen Müll.
Die Erdproben werden im Labor aufbereitet und dann unter dem Mikroskop untersucht. Sie liefern spannende Einblicke, zum Beispiel zur damaligen Ernährung. Rund um das spätmittelalterliche Berlin wurde viel Getreide wie Roggen angebaut und gegessen, auch Spuren von Samen vieler Beeren, von Äpfeln und Birnen fand Dinies im Sediment. Das ist ein deutlicher Kontrast zu mittelalterlichen Handelsmetropolen wie Lübeck oder Hamburg. So finden sich kaum Feigen, auch Reis oder Pfeffer fehlten völlig.
Rückschlüsse auf Sozialstruktur
„Vermutlich gab es hier noch kaum reiches Bürgertum, auch Händler mit exotischen Waren kamen selten vorbei. Stattdessen lassen unsere Funde auf kleinbürgerliche Strukturen schließen“, sagt die Botanikerin. Wahrscheinlich hatten einige der frühen Einwohner Berlins einen kleinen Garten hinter dem Haus oder Parzellen am Rande der Siedlung, damals noch zur Selbstversorgung und weniger zur Stadtflucht.
Bei Archäologie denken wir spontan an Pharaonengräber, versunkene Maya-Tempel oder Wikingergräben. Aber Müll? Eva Becker kennt diese Vorurteile gut, oft gelten sie noch heute. „Müllgruben und Kloaken haben bei Grabungen immer noch einen eher untergeordneten Stellenwert. Dabei verraten sie uns so viel über das alltägliche Leben – egal ob nun in der Bronzezeit, der Antike oder heute“, sagt die Archäologin.
Sie selbst geht regelmäßig mit Schulklassen und Geschichtsinteressierten auf Müllspaziergänge und zeigt ihnen die weggeworfenen Spuren unseres Lebens. Essensverpackungen, To-go-Becher, Einkaufszettel, Preisschilder. Ähnliches würde man auch in den Müllgruben alter Siedlungen finden und so spannende Einblicke in den Alltag bekommen, sagt sie.
Eva Becker, Archäologin
Immerhin finden sich in den Müllgruben oft noch mehr als nur Reste von Getreide, Früchten und Knochen von geschlachteten Tieren, auch Rückschlüsse über den Tellerrand hinaus sind möglich.
„Anhand der Lebensmittel können wir herausfinden, mit welchen anderen Städten und Kulturen Handel getrieben wurde. Selbst zu Klimaveränderungen geben Pollen oder Getreidesorten Hinweise“, sagt Becker. Außerdem finde man in diesen Gruben auch Reste von kaputten Alltagsgegenständen – Werkzeuge, Tonscherben und anderes.
Mülltrennung war damals noch ein Fremdwort. So konnte erst vor wenigen Monaten ein britisches Forscherteam das Rätsel um römische Nachttöpfe lösen. Die konischen und schön verzierten Gefäße fanden Archäologen besonders häufig in oder in der Nähe von römischen Latrinen. Diese Fundstelle legt nahe, dass es sich um Nachttöpfe handeln könnte. Allerdings fehlten bisher dafür die nötigen Beweise.
Weil ihre Form und Optik im Römischen Reich recht weit verbreitet waren, wurden sie oft als Vorratsgefäße bezeichnet. Damit ist nun vermutlich Schluss, die britischen Forschenden konnten nämlich Darmparasiten in den Töpfen nachweisen und lieferten damit die Bestätigung, dass die römischen Bürger zu Hause am liebsten in wohl verzierte Nachttöpfe machten und sie dann zum Entleeren zu den öffentlichen Toiletten brachten oder bringen ließen. Das eigene Badezimmer war ein Privileg der Superreichen.
Doch die Erkenntnisse aus Klärgruben beschränken sich nicht nur auf Lebensumstände oder Ernährung vergangener Tage. Die Hinterlassenschaften lassen auch Rückschlüsse auf die Gesundheit zu. „Im Labor können wir das Erbgut alter Bakterien aus archäologischen Funden bestimmen und erfahren so mehr über die Darmflora unserer Vorfahren. Auch die Spuren von Parasiten und Krankheiten können wir so nachweisen“, erklärt Alexander Hübner vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.
Konservierte Hinterlassenschaft
Das geht am besten, wenn die Kackwürste nicht in Klärgruben verrottet sind, sondern durch schnellen Feuchtigkeitsentzug konserviert wurden. Leider ist das eher die Ausnahme. Weltweit habe man bisher nur 40 bis 60 solch gut erhaltene Kotreste gefunden, schätzt Hübner, zum Beispiel in alten Salzbergwerken, Torflandschaften oder in der Wüste.
Spannende Erkenntnisse lassen die Momentaufnahmen aus dem Darm trotzdem zu. So verdanken wir ihnen die frühsten Hinweise auf den Genuss von Bier und Blauschimmelkäse im eisenzeitlichen Europa, also vor rund 2.700 Jahren. Noch spannender: In der Antike oder dem Mittelalter sah es bakteriell im menschlichen Darm noch ganz anders aus. „Sicher waren die Menschen vor 1.000 oder 2.000 Jahren nicht gesünder als die Menschen heute. Trotzdem gibt es im Vergleich der Darmflora deutliche Unterschiede“, sagt Hübner.
So hatten Menschen früher eine weit größere Mikrobenvielfalt als heute. Zum Beispiel fand sich im frühzeitlichen Kot eine höhere Konzentration an Bakterien, die im Darm pflanzliche Nahrung verwerten. Mit der Industrialisierung verändert sich die Darmflora, und neue Volkskrankheiten treten auf den Plan, Allergien, Übergewicht oder entzündliche Darmerkrankungen. Sie werden oft als Produkt moderner Lebenshaltung gesehen. Der Vergleich zwischen historischer und moderner Darmgesundheit könnte sicher weitere Erkenntnisse über die Entstehung dieser Zivilisationskrankheiten bringen.
Dass die Menschen früher mit anderen Problemen zu kämpfen hatten als Bewegungsmangel, langem Sitzen oder Fast Food, zeigt ein Fund aus York. 1972 fanden Archäologen auf dem Grundstück der Yorker Filiale der Lloyds Bank die prächtige Kackwurst eines Wikingers, mit 20 Zentimter Länge und 5 Zetnimeter Breite ein Rekordhalter in Sachen Größe. Im Torf hatte sie mehr als tausend Jahre fast unversehrt überstanden.
Heute gibt sie genaue Einblicke in Ernährung und Gesundheitszustand des Erzeugers. Kurz vor dem großen Geschäft bestanden die Mahlzeiten des Wikingers vor allem aus Brot und Fleisch, vermutlich saisonbedingt fehlte das Gemüse.
Das Problem: Auch der Rest der Speisen hatte offensichtlich schon die Haltbarkeitsgrenze überschritten. So fanden sich in den Hinterlassenschaften eine große Menge von Eiern des Peitschenwurms (Trichuris) und des Spulwurms (Ascaris) – parasitische Fadenwürmer, die im Dickdarm leben. Vermutlich litt der Nordmann an ziemlichen Bauchschmerzen, Durchfall und starken Entzündungen des Darms – andere Bakterienzusammensetzung hin oder her. Die Eier des Peitschenwurms fanden sich übrigens auch in den spätmittelalterlichen Berliner Latrinen.
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