Türkischer Krieg gegen die Kurden: Vernachlässigt und ignoriert
Während die Welt auf den Krieg in der Ukraine blickt, wird der Angriffskrieg der Türkei gegen Kurd*innen ignoriert.
E s ist wahrscheinlich eine der größten Ironien der kurdischen Frage, dass die herrschenden Mächte sie einerseits ins Zentrum der geopolitischen Auseinandersetzung ziehen, sie andererseits jedoch völlig ignorieren.
Wie meine ich das? Die kurdische Frage ist eine Frage der Superlative: größtes Volk ohne Nationalstaat, Opfer des größten Giftgasangriffs nach dem Zweiten Weltkrieg, größte Bodentruppe im Kampf gegen den IS, der wiederum der größte Antiterrorkampf unserer Zeit war: Eigentlich sollte sich allein daraus diskussionslos erschließen, wieso die Kurdenfrage bis heute relevant ist. Auf der anderen Seite muss man ihre Relevanz und selbst ihre Existenz dennoch immer wieder beweisen.
Über Jahrzehnte verleugnete eine Vielzahl an türkischen, arabischen, persischen und sogar westlichen Stimmen, dass es ein eigenständiges kurdisches Volk gibt. Anschließend musste man beweisen, dass man diskriminiert wird, dass es Genozide wirklich gab, dass die eigene Sprache verboten wurde, dass es wirklich Mustafa Kemal und Saddam waren, die Giftgas einsetzten. Das neueste Beispiel: Als Anfang dieses Jahres der russische Krieg in der Ukraine losging, begannen auch in Kurdistan die Operationen der türkischen Armee. Kurd*innen, die darauf aufmerksam machten, dass beide Kriege relevant sind, wurde nur entgegnet, man werfe da vollkommen unterschiedliche Kriege und Sachverhalte fundamental anderen Ausmaßes durcheinander.
Nun laufen beide Konflikte schon mehrere Monate und aufgrund des Krieges in der Ukraine wollen Schweden und Finnland der Nato beitreten, was vom Aggressor des Krieges gegen die Kurd*innen, der Türkei, blockiert wird: wegen eben jener Kurdenfrage. Die Kurd*innen in Kurdistan und in Europa drohen jetzt zum Blutzoll der antikurdischen Eingeständnisse zu werden, die die Türkei von Schweden und Finnland fordert, um kein Veto gegen deren Mitgliedschaft einzulegen. Wieder wird die Kurdenfrage im Zentrum der geopolitischen Auseinandersetzung zur Verhandlungsmasse, wieder wird sie instrumentalisiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen