Wahlen in Nordhrein-Westfalen: Ihr in NRW

Das Land schaut auf das bevölkerungsreichste Bundesland. Indes meint unser Autor: „Wir alle stehen zusammen – und für absolut nichts“.

Triste Strassenszene in Gelsenkirchen-Beckhausen

Gelsenkirchen-Beckhausen, Hagebuttenstraße Ecke Kärntener Ring Foto: Andreas Teichmann/laif

Meine Mutter rief an und sagte irgendwann: „Sonntag sind Wahlen.“ Wie, Wahlen? Wo? „Na hier, bei uns.“ Sofort die Bilder in meinem Kopf, die Erinnerungsfetzen. Wahlen in Nordrhein-Westfalen, die Signalwirkungen, die bleichen Bonner Runden. Als Kind war ich stolz auf NRW: mehr Menschen, mehr Straßen, mehr Fußballvereine, mehr Arbeitslose. Ein Leuchtturm im föderalen Nebel, zuverlässig den Weg zu den Klippen weisend. Was hier geschah, wer hier gewählt wurde, war wichtig. Wer hier gewählt wurde, erhielt die Chance, als Kanzler nicht gewählt zu werden. Ein Bundesland wie eine eigene Bundesrepublik.

Ich bin kein Auslandsdeutscher, sondern Auslandsnordrheinwestfale. Ich lebe jetzt in Sicherheit, alles ist okay so weit, aber meine Träume haben Rhein und Ruhr nie verlassen, die westfälischen Ebenen, die sanften Hügel im Nordosten, die schwarzen Berge im Süden. Ich gleite über diese zerrissenen Landschaften, die Industrieflüsse, die Industriewälder, die Autobahngitter, die Siedlungsteppiche, die urbanen Versuchsanordnungen. Nordrhein-Westfalen – der Flächenlandstadtstaat. Eine gekachelte Fußgängerunterführung für Autofahrer. Ein Servicecenter, manchmal mit hilflosem Fachwerk beklebt. Kohlekrise, Stahlkrise, Sinnkrise. Seit ich denken konnte, waren die Strukturen im Wandel – bevor sie verschwanden. Es mag ungerecht sein, vielleicht sogar falsch, doch dieses Bild hat sich verfestigt. Mein Nordrhein-Westfalen ist dieser Riese im Niedergang. Der Tanker, der es nicht mehr schafft, die Richtung zu wechseln.

Dabei bemühte man sich ja. Man tat und machte, man hatte sozialdemokratische Ideen. In den Sechzigern ließ man neue Denkfabriken rauchen, in den Achtzigern schüttete man schüchterne Innovationsinseln auf. In einem Meer regionaler Vergeblichkeiten. Und Achtung, der Spiegel steigt weiter. Besser noch mal hineinschauen. Besser nie hineinschauen.

Mein Vater im Auto vor der Garage am Samstagnachmittag, die Stimmen aus den Stadien, ich in behaglicher Angst auf dem Rücksitz: Mein Verein hat immer verloren, ist immer abgestiegen (jetzt gerade wieder), und im Garten zwitscherten die NRW-Vögel einfach weiter. „Der Westen“ – im Fußball waren wir das. Auch sonst. Ein Westen in orangerotem Abendlicht. Montansonnenuntergänge. Schimmernde Ballungsräume, zu einem einzigen unsichtbaren verschmolzen.

Am Montag dann Auferstehung. Das industrielle Herz schmeißt den Schrittmacher an. Halbstündliche, halbstündige Staumeldungen, blecherne Leukozyten in seit Jahrzehnten renovierungsbedürftigen Arterien, alle fünfhundert Meter eine Abfahrt, nie ein Entkommen, ich habe das alles schon zu oft beschrieben, den Style, die Rhythmen, Ikea, Moschee, Club Chérie, Pferdekoppel, Gewerkschaftssiedlung, Gewerbeschutzgebiet. Ein Stadtteil tropft in den nächsten, Städte belästigen ihre Nachbarn, fließen ineinander, die ganze Wucht eines postindustriellen Anachronismus. Und dazu WDR 2. Die ganze Wucht einer postmusikalischen Apokalypse. Mit anderen Worten: Chris de Burgh. Nordrhein-Westfalens Hausbarde. Damals haben sie immer Chris de Burgh gespielt. WDR gleich Chris de Burgh multipliziert mit Chris Rea. Selbstverständlich wechselten wir den Sender. Wir sahen uns gezwungen, nach London zu emigrieren, nach Brighton, nach Manchester. Standortprivileg British Forces Broadcasting Service. Befreiung über den Äther durch die Rheinarmee. Damals, als NRW noch zu den britischen Inseln zählte. Happy Mondays, während man ans Kamener Kreuz genagelt wurde.

Ikea, Moschee, Club Chérie, Pferdekoppel, Gewerkschaftssiedlung, Gewerbeschutzgebiet. Ein Stadtteil tropft in den nächsten

Gut, Schluss damit. Klischees pflichtschuldig abgearbeitet, Wiedererkennungswert generiert, die Briten sind längst abgezogen, Szenenwechsel: mitten in NRW, vor wenigen Wochen. Straßen lagen verlassen da. Uralte, schiefe Mittelalterhäuschen, Kopfstein, kleine Gärten, Blumen, Stille im dickstrahligen Sonnenlicht, kurz: eine Idylle. Ein Kleinod. Doch wo war die Gastronomie? Wo die Schaufenster? Nirgends entdeckte ich einen kommerziellen Sinn.

Achtzig Kilometer!, dachte ich ärgerlich. Nur achtzig Kilometer von hier war ich aufgewachsen. Wie war es möglich, dass ich nichts von diesem Ort wusste? Meine Handykamera im Dauerbetrieb, hier ein Giebel, dort ein Brunnen, was stimmte hier nicht? Warum gab es keine Läden? Wollte hier wirklich niemand Geld verdienen? Da war diese Kirche. Aber niemand, der noch hätte glauben können. Ich spazierte durch ein leeres, geheimes NRW. Dieses Land, begriff ich schließlich, möchte nicht, dass andere seine Schönheit kennen. Trotz allem, trotz der Zubringer, der Knotenpunkte, der ganzen Infrastruktur – es will allein sein.

Später an diesem Tag, in diesem winzigen Städtchen, das übrigens tatsächlich existiert und den Namen Soest trägt, stieß ich doch noch auf eine Art business district. Marktplatz, Cafés, Geschäftsklima, Ambiente, Kebab­läden. Normalität annähernd. Doch die konnte mich schon nicht mehr erreichen. Ich hatte eine tiefe Ruhe erlebt, eine Harmonie.

Wahlen in NRW – mein endgültig letzter Heimattext. Die Erinnerungen fluten mich an, ich glaube keiner einzigen von ihnen. Soest hatte mich verzaubert, aber mehr noch verunsichert. Soll ich wirklich schreiben, dass ich niemals zurückkehren werde? Dass ich dieses Land trotzdem jederzeit gegen den ganzen anderen Schrott verteidigen würde? Denn in Wirklichkeit ist Nordrhein-Westfalen alles andere als bescheiden. In Wirklichkeit verachtet es Bayern. Es spuckt auf Hessen. Gut, der Norden hat das Meer. Aber Holland ist näher. Der Osten? Weiter entfernt als der Mond. Und Berlin? Osten!

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Stopp – das bin nicht ich, der da spricht. Das ist nicht NRW. Versöhnen, nicht verhöhnen! Besser noch: Versöhnen statt spalten – so lautete das Motto des ersten und größten und archetypischsten Nordrhein-Westfalen überhaupt. Des Vaters aller Landesväter. Mein Vater sagte: Ein guter Protestant, den wähle ich. Die Katholiken sagten: Ein guter Protestant, den wählen wir. Ausagierte, ausgereifte Ökumene. Die NRW-DNA ist der Code für Verständigung. Der holprige Dialog zwischen Rheinland und Westfalen. Zwischen albernem Frohsinn und pumpernickelschwarzer Schwermut. Der Mann, von dem ich spreche, hieß Johannes Rau. Er kam aus den düsteren In­dus­trie­tä­lern des Bergischen Lands, und er gab den Menschen an Rhein und Ruhr, worauf sie eigentlich gar nicht scharf waren: Identität. Ein disparater Mob, eine atomisierte, gleichgültige Masse – er machte daraus Bürger, er taufte sich seine Landeskinder. Und die Partei war die SPD, doch das ist gar nicht so wichtig. Denn er sagte: „Wir! In NRW.“

Und er meinte: Wir in den endlosen, bis zur Sonne reichenden Staus. In den für immer verwundeten Innenstädten, mühsam zusammengeflickt mit Fünfziger-Jahre-Einfachbauten. Wir in den verzagten Verkehrsverbünden. In den Vizemeisterstadien. In den multiplen Königsalleen. In den zu Kul­tur­zen­tren verkommenen Zechenschlössern. Wir aber auch in den toskanischen Hügeln des Ravensberger Lands, in den Borkenkäferaufzuchtgehegen des Sauerlands. Wir alle stehen zusammen – und für absolut nichts. Achtzehn Millionen Verwirrungen, dazu unzählige nordrhein-westfälische Tiere. Die Tiere werden immer vergessen. Ich tue das nicht. Aber Tiere dürfen nicht wählen, was schlau ist in einem Land, in dem ein Clemens Tönnies seine Blutdynastie gründete.

Am Sonntag nun also mal wieder Schicksalswahl. In Berlin schaut man gespannt auf jenes Land, das – ohne es zu wollen, ohne es überhaupt wahrzunehmen – für Deutschland entscheidet. Das, wie die alten Mythen erzählen, die Knochen hingehalten hat und zum Dank von den glitzernden Zukunftsversprechen des Südens ausgesaugt wurde. Von den Audis, den Boschs, den Daimlers, den Freizeitwerten. Dessen Innenstädte an ein betäubtes Belfast erinnern, an Charleroi, an ein Baltimore ohne Schusswaffen, während andernorts die Menschenleere fein poliert wurde. Wahlsonntag für ein altes, gutmütiges Grubenpferd, das man nicht mehr nach oben führen darf; das plötzliche Licht würde es verwirren, zu Tode ängstigen. Eigentlich erstaunlich, wie wenig Wut in und durch Nordrhein-Westfalen generiert wird, wie beiläufig es seinen Untergang hingenommen hat, wie … Was ist das? Gerät mir die Sache zum Ende jetzt doch noch politisch? Polemisch? Das geht nicht. Dazu habe ich kein Recht. Ich bin seit Langem fort, ich werde fortbleiben.

Seit vielen Jahren sage ich: „Ihr in NRW.“ Seit vielen Jahren lüge ich.

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Christoph Höhtker kam 1967 in Bielefeld zur Welt. Seit 2004 lebt er im schweizerischen Genf, reist aber oft in seine Geburtsstadt im Nordosten von Nordrhein-Westfalen – und schreibt auch immer wieder über sie, etwa im Roman „Alles sehen“ (Ventil Verlag, 2015). Zuletzt erschien von ihm die „Handgepäck­ge­schich­ten“-Sammlung „Los, Babe, Abenteuer!“ (Weissbooks, 2021).

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