Wer den Kürzeren zieht

Vor der Senatsverwaltung für Finanzen hat Sven Kalden eine Skulptur aufgestellt, die Berlins Schulden thematisiert

Das Vermögen der einen hänge von der Schuld der anderen ab

Von Matthieu Praun

Berlin hat einiges auf dem Kerbholz. 61,95 Milliarden Euro, um genau zu sein. Mit dieser Summe steht die Stadt, Stand 2021, in der Schuld. Aber bei wem eigentlich? Und was bedeutet Schuld in diesem Zusammenhang? Mit diesen Fragen beschäftigt sich eine Installation des Künstlers Sven Kalden, die seit dem 22. April vor der Berliner Senatsverwaltung für Finanzen zu sehen ist. Zwischen Verwaltungsgebäude und Spree hat Kalden 14 überdimensionierte Kerbhölzer aus Treibholz aufgestellt. Die circa drei Meter langen Hölzer sollen die Schulden der Stadt repräsentieren und Anlass geben, über das Verhältnis zu ihren Gläu­bi­ge­r:in­nen nachzudenken.

Kerbhölzer sind eine frühe Form des Schuldbriefs, die vor allem im Mittelalter genutzt wurde, um Schuldverhältnisse festzuhalten. Steuern, Abgaben oder Schulden wurden noch bis ins 19. Jahrhundert auf diese Weise dokumentiert. Dazu wurden längliche Stöcke mit Symbolen markiert und anschließend geteilt, Schuld­ne­r:in­nen und Gläu­bi­ge­r:in­nen bekamen je eine Hälfte. Da die Markierungen sich über beide Teile zogen, konnte jedes Kerbholz fälschungssicher seinem Gegenstück zugeordnet werden. Die Hölzer besiegelten und dokumentierten den Vertrag zwischen beiden Parteien. Anhand der Markierungen konnte auch die Höhe der Schuld nachvollzogen und am Zahltag eingetrieben werden, wenn beide Teile zusammengesetzt wurden.

Traditionell bekamen die Gläu­bi­ge­r:in­nen die längere Hälfte und konnten damit ihre Schulden nachweisen, eintreiben oder abtreten. Schuld­ne­r:in­nen zogen den Kürzeren. Ebendieses Ungleichgewicht stellt Kalden mit seiner jüngsten Installation infrage. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden Schuld­ne­r:in­nen ihren Gläu­bi­ge­r:in­nen untergeordnet. Wer Schuld hat, ist nicht in einer Machtposition. Auch in der Praxis werden diejenigen geschützt, die verleihen, etwa durch Anonymität.

Wem Berlin die 62 Milliarden Euro schuldet, ist im Detail nicht bekannt. Dass Berlin Schulden in dieser Höhe hat, jedoch schon. Dabei sei das Verhältnis von Gläu­bi­ge­r:in­nen und Schuld­ne­r:in­nen eigentlich gleichberechtigt, so Kalden. Denn das Vermögen der einen hänge maßgeblich von der Schuld der anderen ab. Seine Kerbhölzer materialisieren diese auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehung und erinnern daran, dass zu einem Darlehen immer zwei gehören.

Die vor der Finanzverwaltung ausgestellten Kerbhölzer sind vollständig, sie bestehen jeweils aus beiden Hälften. Das liegt jedoch nicht daran, dass die Schuld beglichen wurde, sondern schlicht an der Anonymität der Geldgeber:innen. Gerne würde Kalden Berlins Gläu­bi­ge­r:in­nen deren Kerbholzhälften aushändigen und ruft sie daher dazu auf, sich bei ihm zu melden. Bis dahin gibt es für jede Kategorie an Gläu­bi­ge­r:in­nen jeweils nur ein Kerbholz. Auch die Berliner Kerbhölzer sind mit Symbolen beschriftet, die auf die Höhe der Schuld hinweisen. So erfahren wir etwa, dass Berlin 239 Millionen Euro Schulden bei Bausparkassen hat. Bei Landesbanken sind es 2,3 Milliarden.

Die Anonymität der Geld­ge­be­r:in­nen ist nicht die einzige Kritik des Künstlers am Schuldensystem. Auch zur Installation gehört eine Sitzbank, auf die der Gini-Koeffizient für Deutschland eingraviert ist. Der Wert zeigt die Vermögensverteilung in der Gesellschaft an: Bei einem Koeffizienten 0 ist das Gesamtvermögen maximal verteilt, bei einem Wert 1 gehört einer Person alles. Für Deutschland beträgt dieser Wert 0,81, wie sich auf der Bank ablesen lässt. Indem Berlin sich Geld von privaten Akteuren leiht, trägt die Stadt zur Konzentration von Vermögen bei, so Kalden. Und begibt sich damit weiter in Abhängigkeit.

Bis 13. Juni, am Roland­ufer ­11–16 vor der Senats­verwaltung für Finanzen