Zweite Staffel „In Therapie“: Retter im Analytikersessel
In der neuen Staffel „In Therapie“ muss sich Therapeut Dayan Fragen über Grenzen seiner Arbeit stellen. Wie weit darf er für seine Patienten gehen?
„Zu wissen, ob das Subjekt will, was es sich wünscht.“ Das ist ein Satz des Psychoanalytikers Jacques Lacan, der die Aufgabe der Psychoanalyse zusammenfasse, sagt Analytikerin Esther (Carole Bouquet). Ein Satz, der klug klingt und über den man sicher ergiebig philosophieren kann.
In der zweiten Staffel der Arte-Serie „In Therapie“ fallen noch weitere Kalenderspruch-für-Intellektuelle-Zitate von Lacan, Nietzsche und Freud. Beeindruckender als diese ist in der Serie das Untheoretische, Spontane, Assoziative, oft zunächst zusammenhangslos Erscheinende, aber dann doch einen tieferen Sinn Offenbarende, das Patient:innen ihrem Analytiker Philippe Dayan (Frédéric Pierrot) erzählen.
Auch in Staffel zwei zeigen Éric Toledano und Olivier Nakache gemeinsam mit einem neuen Drehbuch- und Regieteam fast ausschließlich Therapiesitzungen, die dort stattfindenden Projektionen und sogenannten Übertragungen. Der Analytiker hilft seinen Patient:innen mit Gesprächen, gegenwärtiges Leid zu mildern, indem er sie dabei unterstützt, in der Vergangenheit schmerzhaft Erlebtes und deshalb Verdrängtes zu artikulieren.
Weil der Therapeut selbst Schmerzhaftes erlebt hat und in einer Analyse auch nicht allwissend über dem Prozess und seiner Dynamik steht, also auch er emotional involviert ist, können ihn die vielen Uneindeutigkeiten und Grauzonen seiner Methode herausfordern. Wie viel Verantwortung kann ein Analytiker für seinen Patienten tragen? Wie sehr darf er sich für ihn engagieren? Wie viel darf er für ihn fühlen?
Tod eines Patienten
Um diese Fragen geht es in der zweiten Staffel noch expliziter als in der ersten. Denn den eingangs genannten Satz zitiert die Analytikerin Esther als ehemalige Supervisorin von Dayan vor Gericht. Verhandelt wird dort, ob Dayan Verantwortung dafür trägt, dass sein ehemaliger Patient Adel Chibane (Reda Kateb) gestorben ist.
Der Polizist einer Spezialeinheit, der 2015 beim Terroranschlag im Bataclan im Einsatz gewesen ist, hatte nach Sitzungen bei Dayan (Staffel eins) beschlossen, aufseiten kurdischer Truppen in den Syrienkrieg zu ziehen – und wurde dort getötet. Seine Frau mutmaßt, er habe damit Suizid begangen. Sie verklagt Analytiker Dayan, der als Einziger von Chibanes Plänen wusste.
Hier reicht die erste Staffel, die kurz nach dem islamistischen Anschlag spielt, weit in die zweite während der ersten Pandemiemonate 2020 hinein. Vor Gericht geht es auch um die Beziehung sowohl des Polizisten als auch des Analytikers zu einer dritten Person, der Chirurgin Ariane (Mélanie Thierry), ebenso einstige Patientin Dayans, in dessen Praxis Chibane sie kennengelernt hat. Hat Dayan in seiner Beziehung zu beiden berufsethische Grenzen überschritten? Vom Ausgang des Prozesses hängt jedenfalls ab, ob er weiterhin als Analytiker praktizieren darf.
Den sich so verbindenden Handlungssträngen beider Staffeln ist es zu verdanken, dass die Enttäuschungsangst vor der zweiten Staffel schnell schwindet. Die Frage, wie weit ein Analytiker gehen darf, betrifft auch die neuen Patient:innen: den elfjährigen Robin (Aliocha Delmotte), der in der Schule gemobbt wird, weil er dick ist, und der fest davon überzeugt ist, dass sich auch seine Eltern nur deswegen trennen, weil er sie enttäuscht, weshalb er aufhört zu essen und nur Dayan davon erzählt. Ist es in Ordnung, wenn der Analytiker ihm während einer Sitzung ein Sandwich zubereitet?
Entscheidungen des Analytikers
Oder die 22-jährige Architekturstudentin Lydia (Suzanne Lindon), die geheim hält, dass sie an Brustkrebs erkrankt ist, und die Krankheit auch sich selbst gegenüber zu leugnen scheint, weil sie sich gegen die dringend notwendige Chemotherapie wehrt. Soll Dayan sie sterben lassen oder überreden und ins Krankenhaus begleiten?
Die Serie würde wohl komplett an dem Konzept Psychoanalyse vorbeierzählen, würde sie die Entscheidungen des Therapeuten nicht aus dessen Erlebtem heraus zu verstehen versuchen. So gehören die Sitzungen Dayans mit seiner neuen Supervisorin Claire Brunet (Charlotte Gainsbourg) zu den beeindruckendsten, da psychologisch komplexesten. Am meisten versteht und fühlt man wohl, wenn man sich gerade in diesen Folgen, in denen sich zwei Analytiker:innen begegnen, nicht zu sehr vom Zitatedropping beeindrucken lässt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!