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Sterben auf der FluchtGestoppt vom blauen Meer

Tausende Menschen sind im Mittelmeer ums Leben gekommen. Freiwillige Helfer schaffen auf Lampedusa für einige von ihnen einen Ort der Erinnerung.

Yusuf, der sechs Monate alte Junge, der aus Guinea kam, starb auch im Mittelmeer Foto: Claudio La Camera

Lampedusa taz | Was wüssten wir über die antiken Zivilisationen ohne die Inschriften und die Gegenstände, die in den Gräbern gefunden wurden? Einige unserer Friedhöfe sind zu lebendigen Museen des Kampfes für Gerechtigkeit und Freiheit geworden, denn die Toten hören nie auf, den Schlaf der Lebenden zu stören. Die Geschichten der Toten zu erzählen ermöglicht es uns, eine gemeinsame Erinnerung wiederzufinden.

Auf Lampedusa kommen jeden Tag Tote an, selbst im Winter, wenn das Meer stürmisch ist. Es sind Eritreer, Somalier, Ägypter, Frauen, Kinder und Männer, die das Risiko des Todes in Kauf genommen haben, um ein Leben voller Leid zu beenden. Sie haben sich in die Sklaverei begeben, um den Preis für die Reise zu zahlen, sie haben Gefangenschaft und sexualisierte Gewalt erlitten, sie haben die Angst vor einem dunklen und endlosen Meer erlebt, das jede Erinnerung an die es verschlingenden Körper auslöscht. Jeden Tag machen sie sich auf den Weg nach Lampedusa, mit dem Mut mittelalterlicher Helden, mit der Gewissheit des Todes und der Leidenschaft für das Leben.

Von diesen Menschen, die das Unmögliche herausfordern, um eine Zukunft zu finden, gibt es für uns viel zu lernen. Wir sollten wissen, dass es keine Identität gibt ohne Beziehungen zu anderen und dass die Verweigerung von Unterkunft und Schutz für einen verzweifelten Menschen auch bedeutet, dass wir die Welt, in der wir leben wollen, nicht mehr verstehen.

Das Mittelmeer ein Massengrab

Das traurige Antlitz des Westens erbleicht noch mehr angesichts der verzweifelten Menschen, die aus der Wüste kommend das Meer zu überwinden versuchen. Sie haben es noch nie gesehen, sie können nicht schwimmen, aber sie wissen, dass sie eine Aufgabe haben: Einige versuchen, ihre Frauen und Töchter in Deutschland zu erreichen, andere suchen eine Behandlung für ihre leukämiekranken Kinder, wieder andere hoffen, in einem freien Land zu gebären. Viele erreichen ihr Ziel nur als angeschwemmter Leichnam. In den letzten fünfundzwanzig Jahren sind etwa dreiunddreißig­tausend Menschen bei der Überfahrt über das Mittelmeer ums Leben gekommen. Mehr als die Hälfte von ihnen wird das Meer nicht mehr preisgeben; der Rest dieser Helden ohne Identität liegt in ­Massengräbern auf den Friedhöfen der südeuropäischen Länder.

Die Politik des „Notstands“ und die Rhetorik der „Krise“ hat sie zu Nummern gemacht, zu namenlosen Kadavern: eine Ziffer an einem unbekannten Ort. Nach der Tragödie vom 3. Oktober 2013, bei der 368 Menschen ums Leben kamen, aktivierte Italien das bislang einzige Programm zur Erkennung von Vermissten: auch das viel zu wenig, wenn man bedenkt, dass andere europäische Länder nicht angemessen mitarbeiten. Darüber hinaus fehlt es an finanziellen und personellen Ressourcen, und die Politik der europäischen Regierungen gibt dem Drucke des Natio­nalismus nach. Heute hat sich ein widersprüchliches System etabliert: Das Ja und das Nein für die Aufnahme von Flüchtlingen wechseln sich je nach politischer Stimmung ab; die Mitarbeit der Zivilgesellschaft wird gesucht, während gleichzeitig ebenjene juristisch schikaniert und verfolgt werden, die Migranten helfen.

Es ist nicht einfach, Helden loszuwerden; ihre Tode werden symbolisch, ihre Körper bevölkern die Friedhöfe und verwandeln sie in Orte, an denen die Geschichte des kollektiven Gedächtnisses neu geknüpft wird. Und wenn die Boote im Hafen von Lampedusa ankommen, küssen viele Überlebende das Land ihrer Träume, einige rufen sofort in Libyen an, um zu sagen: „Ich lebe!“ Auf der anderen Seite des Hafens gibt es eine Barriere der Stille: Lange blaue Linien ziehen vorbei, hell wie Sternschnuppen: es sind die Leichen der Helden, die die Bürokratie des Begrüßungsrituals überfliegen und den Friedhof erreichen. Für sie wird es keine Möglichkeit einer Autopsie geben, nicht einmal Zeit für einen Versuch der Identifizierung. Vor der Einschiffung mussten sie ihre Dokumente, ihre Namen und ihre Geschichte vernichten.

Sterben wegen eines bürokratischen Konflikts

Eines Tages beschlossen freiwillige Helfer und Familien aus Lampedusa, diesen Leichen ihre Identität und Würde zurückzugeben. Jemand hat sein Familiengrab gestiftet, um Welela, ein 20-jähriges eritreisches Mädchen, zu bestatten. Welela war in den libyschen Lagern gefangen gehalten worden und wurde am Abend ihrer Reise durch die Explosion einer Gasflasche verletzt. Sie wurde mit völlig verbranntem Körper auf den Kahn gelegt. Sie kam leblos in Lampedusa an. Die häufigsten Opfer sind immer Frauen, die in den libyschen Lagern vergewaltigt und von den Schmugglern missbraucht werden.

Während der Fahrt sitzen sie zusammen mit den Kindern in der Mitte des Schlauchboots. Sie werden die Ersten sein, die sterben, denn wenn das Schlauchboot sinkt, beginnt das genau in der Mitte. So starb Yusuf, der sechs Monate alte Junge, der aus Guinea kam. Sein buntes Grab ist ein Akt der Anklage gegen die Politik, die Europa in eine Festung verwandelt hat. So starb Ester Ada, eine 18-jährige Nigerianerin. Das türkische Handelsschiff, auf dem sie zusammen mit 153 anderen Personen unterwegs war, hatte wegen eines bürokratischen Konflikts zwischen der maltesischen und der italienischen Regierung vier Tage lang auf hoher See festgesessen.

Auf Yassins Grabstein ist zu lesen, dass er ein Eritreer war, der in Libyen grundlos verhaftet wurde. Er wollte zu seiner Frau und seinem Sohn, die sich im Aufnahmezentrum in Schweden befanden. Er wurde von einem blauen Meer gestoppt, das die Menschen mit Stacheln gefüllt haben. Alle Grabsteine dieser Märtyrer der Grenze tragen das Symbol einer Feder, die sich im Stacheldraht verfangen hat; das, was vom Aufbruch so vieler Menschen in Richtung Freiheit übrig geblieben ist.

Aus dem Italienischen übersetzt von Ambros Waibel

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2 Kommentare

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  • Diese Tragödie, die gleichzeitig ein Verbrechen ist, welches europäische Staaten u.a. gemeinsam mit libyschen Milizen (genannt Küstenwache) begehen, macht deutlich, wie tiefgreifend unsere Gesellschaften auf Rassismus beruhen. Würden wir Europäer:innen ebenso sterben lassen, ebenso mit den Milizen zusammenarbeiten und nach dem impliziten, nicht ausgesprochenen, aber doch deutlichem doch Motto "jeder, der ertrinkt, ist einer weniger bei uns"? Ich denke, die Antwort auf diese Frage lautet Nein und deshalb ist die Tragödie im Mittelmeer gleichzeitig ein erneutes Beispiel für das Verbrechen des Rassismus.

  • Danke, dass ihr in der taz immer wieder an die Menschen erinnert, die auf ihrer Flucht nach Europa sterben, weil ihnen ein sicherer Weg verwehrt wird - und an die Verantwortung, aus der wir Europäer*innen uns nicht stehlen können.



    Danke an Ambros Waibel für die Übersetzung dieses Textes.