piwik no script img

Gesellschaftsporträt über IstanbulAngst vor Konkurrenz aus Syrien

Armut, Migration, Gentrifizierung in Istanbul: In dem Spielfilm „Saf“ des türkischen Regisseurs Ali Vatansever müssen die Protagonisten hart kämpfen.

Kamil arbeitet für das gleiche Geld wie Ammar und wird dafür von einigen seiner Kollegen angefeindet Foto: Real Fiction

„Kamil, keiner ist mehr ehrlich. Du bist so nett zu allen, aber respektiert dich irgendwer dafür?“ Kamils Frau Remziye verdreht die Augen. „Saf“ (türkisch für: rein, naiv) heißt der zweite Langfilm des türkischen Regisseurs Ali Vatansever. Kamils Ehrlichkeit ist zum Problem geworden in einer Gesellschaft, in der sich alle durchschummeln.

Mit einer zurechtgebogenen Version der Wahrheit hat Kamil einen Job auf einer der vielen Baustellen Istanbuls bekommen. Bald wird er den Führerschein für den Bagger machen, bald. Den Job als Baggerführer hat bisher der syrische Bürgerkriegsflüchtling Ammar gemacht. Kamil arbeitet für das gleiche Geld wie Ammar und wird dafür von einigen seiner Kollegen angefeindet.

Vatansever zeigt ein Istanbul, eine Türkei in der Krise. Kamil und Remziye leben in einem kleinen Haus im Stadtviertel Fikirtepe. Kamils Arbeitslosigkeit hat Spuren hinterlassen, die beiden leben in ärmlichen Verhältnissen von Remziyes Einkommen als Haushaltshilfe und essen das Gemüse aus dem kleinen Garten hinter dem Haus. Die Häuser des Viertels werden eines nach dem anderen aufgekauft, um Hochhäuser mit teuren Wohnungen zu errichten.

Istanbul ist voller Syrer_innen, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflüchtet sind, in dem die Türkei den syrischen Staat unterstützt hat. Der Rassismus, der den Geflüchteten entgegenschlägt, ist allgegenwärtig, geht weit über die Angst vor einer Konkurrenz, die aus der Not heraus Armutslöhne akzeptiert, hinaus. Zu Beginn des Films sehen wir Kamil, wie er in einer Schlange Arbeitssuchender als Einziger einem syrischen Geflüchteten zu Hilfe kommt, als der Vorarbeiter auf ihn losgeht.

Mit Moralvorstellungen und Lebensentwürfe scheitern

Kamil bekommt das Geld für den Baggerschein nicht zusammen. Der Job, an dem all seine Hoffnungen hängen, ist bedroht. Er versucht Ammar, der anders als er einen Baggerschein hat, umzubringen, fällt aber bei dem Versuch selbst aus dem Fenster. Die Leiche wird zunächst nicht gefunden. Als Kamils Frau ihn nicht mehr erreicht, macht sie sich auf die Suche.

Der Film

„Saf“. Regie: Ali Vatansever. Mit Erol Afşin, Saadet Aksoy u. a. Deutschland/Rumänien/Türkei 2019, 102 Min.

„Saf“ ist ein Porträt des Scheiterns von Moralvorstellungen und von Lebensentwürfen, die eine funktionierende Gesellschaft voraussetzen. Eine Voraussetzung, die in der Krise nicht länger erfüllt ist. Der Schauspieler Erol Afşin, der deutschen Zuschauer_innen aus Fernsehserien wie „Wir“ bekannt sein könnte, lässt den Protagonisten immer weiter zusammensinken. Ammar (Kida Khodr Ramadan, unter anderem auch zu sehen in der Serie „4 Blocks“) hingegen versucht inmitten all der Anfeindungen, dem Leben in der Fremde und dem Verlust des Arbeitsplatzes, seine Würde zu bewahren.

Kamils Frau Remziye, gespielt von der türkischen Schauspielerin Saadet Aksoy, ist in ihrem Lebenswillen unerschütterlich. Trotz aller Krisen versucht sie sich mit großer Energie ein Leben mit Kamil aufzubauen, träumt von einem gemeinsamen Kind. Als er verschwunden ist, wird sie zur Protagonistin des Films. All ihre Energie fließt darein, ihn wiederzufinden. Unbeirrbar versucht sie die Trägheit der Behörden zu überwinden.

Vatansevers Film entwirft mit seiner Geschichte ein prägnantes Gesellschaftsbild. Sein Drehbuch verschränkt mit großer Kunstfertigkeit die politisch-wirtschaftliche Krise mit dem Leben der Figuren. Vor allem die Figur Kamil bleibt jedoch vor allem eine Funktion des Drehbuchs. Auch hat „Saf“ für die gesellschaftlichen Konstellationen, die er behandelt, keine prägnanten Bilder gefunden. Erfreulicherweise hat Vatansever durch all diese kleinen Schwächen das Drehbuch als Stärke des Films erkannt und ganz auf die Kraft seiner Erzählung gesetzt. „Saf“ ist kein großer Film, aber ein guter, interessanter Film ist er allemal.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!