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Wissensort Bibliothek WolfenbüttelDie Schönheit des Forschens

Die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel feiert 450jähriges Bestehen: Sie ist noch immer ein Forschungszentrum von Weltrang.

Blick in die Bibliothek: Ein Alchemisten-Traktat versprach 1618 Irrtümer der Chemie zu beseitigen Foto: Julian Stratenschulte/dpa

WOLFENBÜTTEL taz | Oh ja, es gibt ihn, den Ort in Norddeutschland, an dem die zweifelgetriebene Suche nach Wahrheit unzweifelhaft schön erscheint: Forschung entfaltet in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, der HAB, ihre ganz eigene Ästhetik.

Diese Bibliothek atmet das Streben nach Wissenschaftlichkeit – schon, weil es sie seit 450 Jahren so kontinuierlich wie mäandernd prägt. Also immer die Frage eingeschlossen, was sie denn sein könne, diese Wissenschaft, und, wie sie in ihr Inneres hineinwuchert, fraktalförmig. Weil ja jede Disziplin ihre eigene Geschichte miterzählen muss, wie sie ihre eigenen Vorstellungen fortspinnt oder widerlegt.

Diesen epistemischen Wandel hat exemplarisch die Braunschweiger Kulturwissenschaftlerin Ute Frietsch für den Fall der „Wissenschafts- und Kulturgeschichte der Alchemie“ an Dokumenten aus dem Bestand der HAB erkundet, ein mittlerweile abgeschlossenes Projekt.

Das war eben auch der Frage nachgegangen, wie Institutionalisierung, Destituierung und Nachleben von Wissenschafts-Branchen abläuft: Nachzulesen ist das im Fachjournal Ambix und dem im Herbst erschienenen ­166. Band der Reihe „Wolfenbütteler Forschungen“.

In Sachen Digitalisierung spitze

Weil man diese alten Bestände hat, ist man andererseits auch gleichsam gezwungen gewesen, besonders früh und besonders konsequent deren Erfassung voranzutreiben. In Sachen Katalogisierung und Digitalisierung mittelalterlicher Corpora und wertvoller neuzeitlicher Drucke ist man in Wolfenbüttel führend. Unter anderem für die Göttinger und die Bremer Unibüchereien hat man das erledigt, man könnte ins Aufzählen verfallen, für wen noch alles, aber das wäre langweilig.

Mit den sowohl medien- als auch bibliothekswissenschaftlichen Forschungen zum Buch setzt die HAB eine Tradition fort, die älter ist als sie selbst: Einer der ersten Vorsteher ihrer Vorläufersammlung war der innovative Buchbinder Lukas Weischner. Angestellt war er bei Herzog Julius, ein bedeutender Hexenverfolger und ein irgendwie onkeliger Vorfahr des späteren Namensgebers, der auch die – kurioserweise nicht digitalisiert veröffentlichte – „Liberey Ordnung“ am 4. April 1572 herausgab. Sie gilt als Gründungsdokument der HAB.

In ihm wurden sowohl Prinzipien der Sammlung definiert als auch Kleidervorschriften für ihre Nutzer erlassen, wie das Verbot von Messern und langärmeligen Hemden, weil einige Humanisten im Nebenjob Bücherdiebe waren und sich gelegentlich schöne Seiten aus Folianten rausschnitten.

Etliche HAB-Bibliothekare sind berühmt geworden, Paul Raabe, Erhart Kästner, Gotthold Ephraim Lessing und Gottfried Wilhelm Leibniz: Dessen Idee war es, einen eigenen Prachtbau, die Rotunde, für den Bücherschatz zu errichten – als ersten profanen Bibliotheksbau Europas.

Und doch, mehr als die Tatsache, dass dieser oder jener hier genial gewirkt hat, fasziniert an der HAB ihre eigene Substanz und der Umgang mit diesem Epochenfetisch Buch: Ein schöner Ausdruck davon sind Accessoires wie die grauen Leseständer, die an jedem Arbeitsplatz stehen, und gewährleisten, dass der Rücken des konsultierten Werks nicht zu sehr strapaziert wird.

Oder die Ramelli-Maschine aus dem 17. Jahrhundert: Auch das ist eine Halterung für Bücher oder Bibliothekskataloge. Sie ähnelt einem Mühlrad: In dessen sechs Gefachen können, aufgeschlagen, jeweils ein bis zwei Folianten liegen, sodass man bei Querverweisen zwischen ihnen von einem zum anderen surfen kann, als wären sie per Hyperlink miteinander verbunden.

Umwerfende Schätze

Zum Jubiläum gibt's einen Festakt mit dem amtierenden Bundespräsidenten. Danach wird's wieder schön: So kann ab 6. April eine Ausstellung besichtigt werden. In der sollen umwerfende Buchschätze wie das Evangeliar Heinrichs des Löwen – des unterlegenen Konkurrenten von Analphabet Friedrich I. um den Kaiserthron – gezeigt werden.

Und die Räume: Denn lange war der museale Bereich der Bibliothek, den die Be­su­che­r*in­nen gerne durchstaunen, gesperrt – wegen baulicher Maßnahmen plus Corona. Der Forschungsbetrieb aber, geistes- und geschichtswissenschaftlich fokussiert, lief ungebremst fort.

Denn an wertvollen Handschriften und längst historisch gewordenen Originalausgaben untersuchen, neben der Stammbelegschaft, jährlich auch rund 250 Gast­wis­sen­schaft­le­r*in­nen aus aller Welt sehr unterschiedliche Gegenstände. Das Spektrum reicht von der Frage nach der genauen Bedeutung des Cordonsteins im Festungsbau, über die Klassifizierung botanischer Klassifizierungsideen vor Linné bis zur Untersuchung nach dem Wandel des Wal-Bildes zwischen 16. und 18. Jahrhundert.

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