Fotobuch über Ostdeutschland: Schöne Welt, gemeines Leben

Seit den 70er Jahren dokumentiert Ulrich Wüst die Entwicklung ostdeutscher Städte. Seine „Stadtbilder“ liegen nun erstmals umfassend abgebildet vor.

die zerbombte Frauenkirche in Dresen, davor ein einstöckiger Zweckbau

Berlin Lichtenberg, Mai 1983 Foto: Ulrich Wüst courtesy Galerie LOOCK Hartmann Projects

Eine Straßenansicht am Rande Berlins, das Schild weist mit geschlungenem Pfeil Richtung Zentrum. Eine Keramik­kachelwand mit Betontreppe in einer Neubauwüste von Rostock; karge Bäumchen müssen gestützt und mit einem Zaun geschützt werden. In Magdeburg stehen überfällige Altbauten auf einsamem Rasen, der weitflächig Ruinen unter sich abdeckt. In Freiberg verheißt ein Restaurant „Zur Bleibe“, aber – so, wie es ausschaut – aussichtslos. Und in Gera trägt ein Stadtinformationsgebäude in die Brandmauer eingelassene Glasbausteine, als wären dies Schießscharten eines Bunkers.

Den 1949 in Magdeburg geborenen Fotografen Ulrich Wüst interessieren Stadt und bebaute Peripherien in diversen Zerfallsstadien, ohne dabei dem ruin porn zu frönen. Seine Distanziertheit hatte auch taktische Gründe, waren seiner Kollegin Helga Paris doch Aufnahmen vom desaströs verfallenen Halle verboten worden.

Ulrich Wüst: „Stadtbilder 1979–1985“. Hartmann Books, Stuttgart 2021, 160 Seiten, 40 Euro

Wüst ist kein DDR-Notalgiker, der die Überreste der Altstädte fotografisch retten will, doch reizen ihn die Neubauten schon gar nicht. Vielmehr ist es dieser eingestellte Alltag dazwischen, in den Resten und Winkeln einer Poesie des Gemeinen, welcher seinen Aufnahmen abzulesen ist. Nach dem Krieg und vor dem Abräumen der Flächensanierungen zeigen sich Übergänge und Vorläufiges, Leeres und Offenes: Daraus könnte noch was werden. Aber – so seine spürbare Lakonie – wohl eher doch nicht.

Fernwärmerohre, Bahnanlagen, Hochspannungsleitungen, Garagenanlagen und leere Straßen bilden Infrastrukturen der Stadt und Mobiliar des Städtischen. Im Gefühl einer „ewig währenden DDR“ würden die Dinge heute oder ja auch morgen noch bestehen. Diese Welt ist schön, das Leben darin gemein. Viele Schattierungen von Grau geben der Melancholie Ausdruck. Eigentlich jedoch fotografiert er Leblosigkeit, „wenn ich also das Gebaute, das Tote vorführen will“: lauter kriegsversehrte Invalidenstraßen.

Akkumulation von Bildern

Ulrich Wüst akkumuliert Bilder und arbeitet in Blöcken, bis sie zu einem Konvolut zusammenfinden. Das kann eine Ausstellungsserie werden, eine Publikation oder ein Leporello als private Archivform zwischen Kontaktabzug und Buch. In Wüsts Büro stehen etwa hundert solcher Papp-Kameraden als Regis­tratur zum eigenen Gebrauch.

Die „Stadtbilder“-Serie wurde erstmals 1986 in der innovativen Berliner Galerie am Helsingforser Platz und dann wieder auf der documenta 14 gezeigt. Und liegt nun dank dem Stuttgarter Verlag Hartmann Books mit einer Einführung von Matthias Flügge sowie einem instruktiven Interview mit Ulrich Wüst von Katia Reich vor. Das Buch umfasst die kompletten fünfzig Bilder des edierten „Stadtbilder“-Portfolios sowie fünfzig weitere Bilder von 1979 bis 1985, die von Ulrich Wüst hierfür erstmals abgezogen wurden.

Ende der 1970er Jahre, also mit dem Entstehen der „Stadtbilder“-Serie, entdeckte er „die ersten völlig neuartigen Bilder aus Amerika und von den Bechers“. Mit der einflussreichen Publikation „New Topographics: Photographs of a Man-­Altered Landscape“ wandelte sich der dokumentarische Blick hin zu un-natürlichen Stadtlandschaften und Fabriktypologien.

Und plötzlich war die von Krieg und Indus­tria­lisierung geschundene DDR nicht mehr ganz so fern vom Grauen, welches ihm auch aus dem Westen entgegenschlug. „Jedenfalls verspürte ich eine gewisse Langzeitwirkung dieser, lange Zeit kaum auf Sympathie stoßenden und eher angefeindeten, lapidar daherkommenden Bilder.“ Fern vom mit dem Aufbauwillen ringenden nationalen FotografInnentum hatte der Solitär Wüst nun weitläufige Verbündete.

Traurige Reisen

Der durch Stadt- sowie Regionalplanung akademisch geschulte Wüst ließ den Bürotrott im Berliner Planungsmagistrat bald hinter sich, weil er dort das Bessere – realistisch betrachtet – nicht würde erreichen können. So wich er auf die fotografische Betrachtung des Existierenden aus.

Als reisender Gelegenheitenfotograf für die Design­zeitschrift form+zweck sowie als Bildredakteur fest angebunden für Farbe und Raum „lag es nahe, ein wenig Beifang zu machen“. Hierfür machte sich Wüst im Selbstauftrag auf den Weg seiner „vielen traurigen Reisen“.

Lange vor Ort warten für optimale Lichtverhältnisse oder dann am einzelnen Bild in der Dunkelkammer tüfteln war sein Ding nicht: Er musste ja noch den letzten Zug zurück nach Berlin erwischen. Entscheidender war, dass seine Bilder stets gedruckt und somit öffentlich gesehen wurden.

„Heute hat Ulrich Wüst diese Form des Fotografierens aufgegeben. Es gibt ja nichts Neues“, schreibt der Kunsthistoriker Matthias Flügge am Ende seiner Einleitung. Mit Wüsts Teilrückzug in die nördliche Uckermark erweitern sich die Stadtbilder um solche vom Land oder um Details der eigenen Behausung. Aufkommende Landlust hält er sich ähnlich spröde vom Leibe wie die Bauten auf seinen Streifzüge durch ostdeutsche Städte.

Wüst trauert dieser DDR nicht nach; zugleich wird ihm sein Berliner Wohnumfeld immer fremder. „Ganz anders also als im Osten, der mir offensichtlich ein ‚lebenslänglich‘ verordnet hat. Hier nehme ich teil, und das kann durchaus eine aggressive Anteilnahme sein, voller zwielichtiger Erinnerungen und Sarkasmen.“

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