piwik no script img

Spuren eines Sonderlings

Von den Nazis interniert, gegängelt aber auch noch in der Bundesrepublik: In „Freistaat Mittelpunkt“ erzählte Kai Ehlers 2019 die – skandalöse – Geschichte von Ernst Otto Karl Grassmé

Ausgebreitet im Moor: Mit Fotoarbeiten verdiente sich Grassmé ab und an ein paar Mark dazu Foto: Kai Ehlers Film

Von Wilfried Hippen

Er nannte sich „Altonaer Bürgermeister im Exil“ und „Reichsbundesbischof“, residierend im „Freistaat Mittelpunkt“: Ernst Otto Karl Grassmé war ein Sonderling, der in seiner ganz eigenen Welt lebte. Dabei war er nicht gefährlich, nicht für sich selbst und nicht für andere. Gefahr drohte vielmehr ihm, sein Leben lang und das seitens der staatlichen Institutionen: zuerst durch die des nationalsozialistischen Regimes, die ihn internierten und zwangssterilisierten und vermutlich umgebracht hätten, hätten sie gekonnt. Später dann verwehrten ihm die verschiedenen Ämter der Bundesrepublik lange jeden Schadensersatz, stattdessen wurde er entmündigt. Grassmé zog dann von Altona auf etwas geerbtes Land im Moor bei Dauenhof in Schleswig Holstein, wo er als kauziger Einsiedler eine Art lokale Berühmtheit wurde.

Wer sich ohne dieses Wissen den Film „Freistaat Mittelpunkt“ von Kai Ehlers ansieht, wird einige Zeit brauchen, um zu verstehen, wer dieser Protagonist ist und was ihm widerfuhr: Dies ist kein konventioneller „ordentlicher“ Dokumentarfilm, der die Zu­schaue­r*in­nen an die Hand nimmt und Schritt für Schritt alles erklärt. Stattdessen hören wir, wie aus Grassmés Briefen an eine unbekannt bleibende „Katja“ vorgelesen wird; andere Stimmen zitieren aus amtlichen Briefen, Krankenakten und Protokollen. Dazu sieht man Aufnahmen vom platten Land: Feldwege, Waldstücke, eine junge Bäuerin führt einen Ochsen durch die norddeutsche Landschaft. Zudem sind die Originaltexte nicht chronologisch, sondern zuerst frei assoziativ montiert.

Die verwirrende Wirkung ist gewollt: Man soll sich langsam ist die Gedankenwelt und in das Leben Grassmés einfühlen, und im Kino sind die Zu­schaue­r*in­nen ja sozusagen gezwungen dazu, geduldig hinzusehen und hinzuhören. Im Fernsehen würde das nie klappen, sagt Ehlers selbst, weshalb er auch gar nicht erst versucht habe, seinen Film etwa dem NDR anzubieten.

Dem Filmemacher war es wichtig, Grassmé selbst zu Wort kommen zu lassen

Im Kino gelingt dieses Einfangen des Publikums dagegen erstaunlich gut. Grassmés Briefe sind von einer ganz eigenen Poesie, man wird neugierig darauf, wer dieser Mensch ist, und in was für einer Welt er lebt. Er ist der König in Shakespeares Nussschale und erschütternd ist der Kontrast zwischen seinen Worten und den – in verschiedenen Archiven gefundenen – Dokumenten, die beschreiben, wie er beurteilt, verwaltet, misshandelt wurde. Als er 1950 Schadensersatz für die Zwangssterilisation forderte, bezeichneten die Behörden den Fall im Ablehnungsschreiben als „Erbgesundheitssache“ – die Terminologie der Nazis.

Etwas später wurde Grassmé wegen „religiösen Wahns“ entmündigt, in den 1960er-Jahren wollte sein Vormund ihn zwangseinweisen lassen, weil er sein Grundstück nicht ordentlich aufgeräumt hatte. Dabei hatte er sein, zugegeben ärmliches, Leben erstaunlich gut im Griff: Es gab sogar eine Frau, die zeitweilig mit ihm im Moor lebte, aber auch in einer Wohnung in Altona, die für ihn einkaufte und wiederum die Eier seiner Hühner in ihrer Nachbarschaft vertrieb.

Durchaus überraschend: Er war ein guter Fotograf, der sich etwa mit Hochzeitsbildern ein paar Mark dazuverdiente. Im Film nun hören wir, wie Grassmé in einem Brief davon erzählt, und Ehlers montiert dazu eine Auswahl von Fotos, ausgebreitet auf einer Wiese – einer der wenigen Momente, in denen sich die mitunter weit geöffnete Schere zwischen Ton und Bild schließt. Ansonsten nämlich bilden lange Einstellungen visuelle Kontrapunkte zu den Texten; zu sehen ist dann etwa die Landschaft nahe Grassmés Grundstück. Oder Jäger, die – ziemlich schief – ihre Hörner blasen. Oder eine Frau schlachtet ein Huhn.

Weit geöffnete Schere zwischen Text und Bild: hier eine junge Frau mit einem Ochsen Foto: Kai Ehlers Film

Die ganz unterschiedlichen Quellentexte sind der Schatz, den Ehlers bei den Recherchen gehoben hat. Bei der Auswahl war ihm wichtig, dass Grassmé selbst zu Wort kommt, weil sein Leben lang immer andere über ihn geschrieben und befunden haben. Weil daher nun einzig Grassmés Briefe und andererseits offizielle Dokumente vorkommen, bleiben viele Leerstellen, die der Film nicht füllen kann – oder will. Flankierend hatte Ehlers eine Ausstellung mit Originaldokumenten geplant, die aber durch Corona vereitelt wurde. Nach eigenen Worten fand sich aber eine „viel bessere“ Alternative: Auf der Website zum Film richtete er ein Archiv ein,das Grassmés Geschichte anhand vieler Fotos, Aussagen von Zeitzeugen und Dokumente erzählt.

So berichtet etwa der letzte, erstaunlich einfühlsame Vormund über Grassmés letzte Jahre im Moor und davon, dass er 1991, kurz vor seinem Tod, doch noch eine Rente von gerade mal 100 Mark monatlich bewilligt bekam. Und hier ist zu erfahren, wer die erwähnte Brieffreundin „Katja“ war: eine junge Frau auf einem Bauernhof in der Nachbarschaft. Erhellend und interessant, machen diese zusätzlichen Informationen auch klar, wie gut Ehlers’ auf den ersten Blick so sperriger Film die Essenz dieser so deutschen Geschichte eingefangen hat.

„Freistaat Mittelpunkt“:

Kai Ehlers (Regie), Deutschland 2019, 79 Minuten

Der Film läuft am 29. 1., 18 Uhr, in der Volkshochschule Elmshorn und am 30. 1., 11 Uhr, im Abaton-Kino in Hamburg

www.freistaat-mittelpunkt.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen