Geschichte über das Ankommen: Sie will immer gewinnen
Aus Griechenland hat Efterpi Kleani ihre Leidenschaft fürs Tavli-Spiel mitgebracht. Und ihren Kampfgeist, den sie auch als Rechtsanwältin zeigt.
Sie hatte ihren Eltern gesagt, sie habe einen Studienplatz in Berlin. Die Lüge war notwendig. Die Mutter hätte sie nie nach Deutschland gehen lassen. Doch für die Tochter war es an der Zeit, das Dorf in den Bergen zu verlassen, in dem man nichts anderes tun konnte, als Tavli zu spielen, und in dem sie bereits alle Bewohner geschlagen hatte, sogar den Vater, den unumstrittenen Champion der Berge. Jahrelang hatte er, als ranghoher Offizier auf verlorenem Posten stehend und einen guten Teil seiner Arbeitszeit bei Kaffee, Ouzo und Tavlispielen in den Kafenia verbringend, gegen sie gespielt und immer gelächelt dabei. Nun lächelte er nicht mehr. Nun verlor er. Gegen die eigene Tochter!
Das ist lange her. Efterpi Kleani ist jetzt Berlinerin. Kreuzbergerin. Sie sitzt im Hinterzimmer ihrer Kanzlei und wirft mit eleganter Handbewegung die Würfel aufs hölzerne Spielbrett. Gegenüber am Tisch sitzen Andreas, der Barbesitzer aus Ithaka, der bei jedem griechischen Lied im Radio mitsingen muss, und Paros-Bernd, der ehemalige Kellner vom „Orpheus“, der in den Achtzigern auf eine griechische Insel auswanderte und dreißig Jahre lang nichts anderes tat, als zu surfen und Tavli zu spielen. Er hätte nie geglaubt, einmal gegen eine Frau zu verlieren.
Einmal in der Woche treffen die drei sich zum Spiel. Dieses Mal gewann zuerst der Deutsche, aber die letzten Spiele gingen alle an die Griechen. „Die haben nur Glück!“, flucht Paros-Bernd und weiß, dass das nicht stimmt. Es gibt kein Glück im Spiel. Jedenfalls nicht unter Spielern und Spielerinnen. Nicht unter Profis, nicht unter Griechen.
Die Freitagabende, nach den langen Stunden zwischen Aktenordnern und Gesetzbüchern, nach den langen grauen Tagen im Licht der Glühbirnen mit den ständig klingelnden Telefonen mit den aufgeregten Klienten, sind für die Anwältin letzte Verbindungen zu einer Welt, in der noch Wölfe und Bären lebten, in der man noch Holz sammelte für den Winter. In der es nicht mehr gab als die Berge und die Tiere und die Menschen und das Radio und irgendwo da hinten die große Stadt.
Die Mutter hatte Tränen in den Augen, als die Tochter das Dorf verließ. Efterpi Kleani blieb nichts übrig, als weiter zu lügen: Sie rief zu Hause an und erzählte, dass sie eine schöne Wohnung und ein Stipendium habe. In Wahrheit stand sie auf dem Weihnachtsmarkt, um ein paar Euro zu verdienen, bei 15 Grad minus. Und fror bitterlich.
Das Schlimmste aber waren die Zahnschmerzen. Sie hielt durch, bis zum Heiligen Abend, und während ihre Freundinnen in der kleinen Wohnung im kleinen Wohnzimmer saßen und aßen und tranken und lachten, lag Efterpi Kleani im Nebenzimmer und heulte. Um drei Uhr morgens, als die anderen endlich gegangen waren, rief sie ein Taxi und versuchte, mit ihren drei Worten Deutsch zu erklären, dass sie eine Zahnklinik suche. Der Taxifahrer fuhr quer durch die Stadt bis ans Ende der Welt, aber in der Klinik war alles dunkel. „80 Euro hat der Kerl mir abgenommen, mein letztes Geld. Ich war 28, aber ich habe geheult wie ein kleines Kind und nach meiner Mama gerufen. Ich wollte nur noch nach Hause!“
Heimweh und darüber reden
Die ersten Jahre waren nicht leicht. Die Studentin träumte von den gefüllten Tomaten ihrer Mutter, dem Zicklein aus dem Backofen. In Berlin dagegen gab's Pizza. Pommes. Currywurst. Sie hatte Heimweh. Genau wie Kumar. Sie traf ihn in einer kalten Novembernacht, um drei Uhr morgens, allein an einer dunklen Haltestelle. Der Bus kam nicht und sie war froh, als ein junger Mann sie schüchtern grüßte. Sie kamen ins Gespräch, ein indischer Student und eine griechische Studentin. Als sich ihre Wege trennten, hatten sie die Telefonnummern ausgetauscht. Manchmal trafen sie sich im Café, dann erzählte Kumar von Indien und sie erzählte von Griechenland. Stundenlang. Mehr brauchten sie nicht.
Einmal verabredeten sie sich im Café Orya in der Oranienstraße. Efterpi kam aus dem Museum, wo sie sich für einen Studentenjob beworben hatte, „aber ich war mir sicher, dass die mich ablehnen“. Hinter dem Tresen stand Tevfik, der Besitzer. Und Tevfik suchte dringend eine Tresenkraft. Tevfik stützte den Kopf aufs Kinn und musterte die Griechin. Irgendwann sagte er: „Du, Kumar, das ist jetzt wirklich nichts gegen dich, ich finde dich sehr sympathisch, aber ich würde Efterpi gern mal allein sprechen. Geht das?“ Als Tevfik dann mit Efterpi allein am Tresen saß und sie ihn fragte, was denn nun sei mit dem Job als Tresenkraft, da sagte er: „Ich stelle keine Leute ein, mit denen ich eigentlich flirten möchte.“
Das klang wie ein Zitat aus einem Hollywoodstreifen, aber als am nächsten Tag das Museum anrief und Frau Kleani mitteilte, dass man sich für sie entschieden hatte, da dauerte es nicht lange, da stand sie wieder am Tresen und sagte: „Ich brauche deinen Job nicht mehr. Wir können flirten.“
Das ist lange her. Efterpi ist keine Studentin mehr. Sie verteilt keine Audioguides mehr auf der Museumsinsel. Sie arbeitet in ihrer Kanzlei und kämpft, Bastionen von Gesetzbüchern im Rücken, gegen das Unrecht.
Sie geht in Berufung mit dem jungen Griechen, der, als die Polizei ihn zu Boden wirft und ihm die Kehle zudrückt, sich nicht anders zu helfen weiß, als zuzubeißen wie ein Tier. Was ihm eine Anklage wegen Körperverletzung und einen Schuldspruch einbringt. Die einzigen Zeugenaussagen kamen aus einer geschlossenen Reihe von Polizisten. Efterpi Kleani kann das nicht akzeptieren. Es ärgert sie. Sie geht in Berufung.
Aufgeben kommt nicht infrage
Auch bei ihrem Landsmann, der beweisen kann, dass er zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung nicht in Deutschland war, der beteuert, so einen Vertrag überhaupt nie unterschrieben zu haben, wird sie nicht aufgeben. „Und dann legt die Gegenpartei der Richterin so eine zweifelhafte Kopie vor und behauptet, man habe sich im Datum geirrt. Und die akzeptiert das! Die waren zu dritt, drei Anwälte, und danach, draußen auf dem Gang, fingen sie noch an, mich zu beschimpfen, was ich denn überhaupt für eine Christin sei!“
Efterpi Kleani verliert nicht gern. Sie ist eine Spielerin. Eine Kämpferin. Wenn ein Anwalt der Gegenseite – einen Arm lässig über die Rückenlehne geworfen, die Beine breit gespreizt wie ein amerikanischer Cowboystar in einem kitschigen Hollywoodfilm – jedes Mal, wenn die „Frau Kollegin“ das Wort ergreift, sie blöde angrinst, dann läuft sie zur Hochform auf. „Könnten Sie den Herren bitten, sich weniger provokant zu positionieren?“, fragt sie die Richterin. Doch die ergreift Partei für den deutschen Cowboy und sagt, sie könne niemandem vorschreiben, wie er sich hinzusetzen habe.
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So etwas vergisst die Griechin nicht. Ebenso wenig wie den Namen jenes Anwalts, der meinte: „Sie sind hier vor einem deutschen Gericht, Frau Kleani, nicht vor einem griechischen …“
Es gibt Tage, da kommt sie schlecht gelaunt zum Tavli. Aber es gibt andere, da strahlt sie. So wie nach dieser Geschichte mit dem syrischen Flüchtling, der eine Deutsche heiraten wollte. Jahre zuvor hatte die Anwältin ihn bei seinem Asylantrag unterstützt und dafür gesorgt, dass er ordentliche Papiere erhielt mit einem Namen, einem Geburtsdatum, einem Geburtsort. Nun aber wollte er heiraten, doch alles, was er damals angegeben hatte, war erfunden. Als die Anwältin der Richterin das Dilemma erklärte und darum bat, die falschen Papiere auf den richtigen Namen umzuschreiben, sah es danach aus, als würde sie ihr an den Hals springen. Die Anwältin argumentierte, appellierte, gestikulierte, es half alles nichts, die Miene ihres Gegenübers blieb versteinert. „Aber irgendwann musste die Richterin plötzlich laut loslachen“ und zog die Akte heraus. Das sind Momente, die glücklich machen. Das sind keine kleinen Siege mehr wie in einem Würfelspiel, das sind Siege der Menschlichkeit, Triumphe der Vernunft.
„Lass sie heute Abend gewinnen“
Auch die Niederlagen vor Gericht wiegen schwerer als die beim Tavli. Obwohl die Anwältin über ein verlorenes Spiel so unglücklich sein kann, dass selbst Tevfik nicht mehr trösten kann. „Kann ich noch etwas für dich tun?“, fragte Andreas aus Ithaka eines Tages Tevfik in seinem Café. „Ja, lass Efterpi heute Abend gewinnen!“
Manchmal, wenn sie verloren hat, ruft sie die Mutter an. Sie tröstet immer, schickt ihr Pakete mit Tomaten aus dem Garten und Selbstgebackenes – gegen Heimweh. Die kleinen Lügen hat sie der Tochter längst verziehen, und wenn sie auf die Fragen der Leute im Dorf nach dem Verbleib der Tochter früher mit einem traurigen Seufzer antworten musste, sagt sie heute nicht ohne Stolz: Efterpi ist in Berlin!
Sie ist selbst schon einige Male in Berlin gewesen. Und fühlt sich fast schon wie eine Berlinerin, sitzt im Café Conni Island und plaudert mit der Café-Besitzerin, mit Händen, Füßen, Gesten und drei Worten Deutsch oder Griechisch oder Englisch. Sie wird jetzt öfter kommen, winzige, aus griechischer Wolle gestrickte Hemdchen und Höschen hat sie im Gepäck. Für das Enkelkind, das erwartet wird. Und einen Schnaps für Tevfik, den Schwiegersohn. „Berlin“, dieser Name hat für die Mutter plötzlich einen ganz anderen Klang.
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