piwik no script img

„Die Familie wird mitbestraft“

Selin Arikoğlu hat einen Verein gegründet, der Strafgefangene und ihre Familien betreut. Benannt hat sie ihn nach ihrer Mutter Oya – weil die schon ihre Sand­kas­ten­freun­d*in­nen eingesammelt hat, wenn sie Mist gebaut hatten.

Interview Nadine Conti Foto Michael Trammer

taz: Frau Arikoğ lu, wir haben uns bei einer Lesung in der JVA Sehnde getroffen. Sie saßen ganz hinten, waren nach der Veranstaltung aber trotzdem ruckzuck umringt von einer Reihe von Häftlingen, die Getränke anschleppten und Ihren Rat wollten. Wie kam es dazu?

Selin Arikoglu: Nun ja, ich war in meiner Funktion als Anstaltsbeirätin da. Das sind Externe, die von der Politik vorgeschlagen und gewählt werden, um sich dann für die Belange der Inhaftierten und Bediensteten einzusetzen. Das ist gesetzlich so vorgesehen. Wir vermitteln sozusagen bei internen Konflikten. Ich bin von den Grünen vorgeschlagen worden, für die ich eine Zeit lang im Rat der Stadt Hannover und in der Regionsversammlung gesessen habe. Meine Fraktion wusste, dass ich als Sozialarbeiterin in diesem Bereich gearbeitet und auch promoviert habe und deshalb die nötige Expertise habe.

Aber wie landet man denn überhaupt in diesem Arbeitsfeld?

Das werde ich oft gefragt. Vor allem als junge Frau mit Migrationshintergrund. Aber ich bin halt in einem sozialen Brennpunkt aufgewachsen, in Garbsen Auf der Horst. Da bin ich früh mit straffälligem Verhalten meiner Freun­d*in­nen in Kontakt gekommen und meine Mutter war so etwas wie die inoffizielle Sozialarbeiterin des Stadtbezirks. Also, natürlich hat sie das nicht gelernt und es hat sie keiner dafür bezahlt, die hat das alles aus Überzeugung gemacht. Immer wenn irgendwer Ärger oder Stress hatte, in der Schule, mit irgendwelchen Behörden, wenn die Leute irgendwo nicht weiterkamen, sind sie zu meiner Mutter gekommen und die hat gedolmetscht und vermittelt. Wenn meine Freun­d*in­nen Scheiße gebaut hatten, haben die auf der Polizeistation auch nicht die Nummer ihrer Eltern angegeben, sondern gesagt „Rufen Sie bitte Tante Oya an.“ Und sie hat dann dafür gesorgt, dass die Sozialstunden statt Jugendarrest bekommen. Also habe ich früh von meiner Mutter mitbekommen, was es heißt, sich für andere einzusetzen.

Und was hat das für ihre Kindheit bedeutet?

Ich habe früh Verantwortung übernommen, natürlich. Meine Mutter war ja alleinerziehend mit drei Kindern und wir hatten auch noch meine Oma bei uns, die eine Querschnittslähmung erlitten hat, als ich neun Jahre alt war. Trotzdem wollte meine Mutter nicht, dass sie in ein Pflegeheim geht. Wenn Mama etwas zu erledigen hatte, habe ich Oma eben im Rollstuhl spazieren gefahren. Gleichzeitig war es meiner Mutter sehr wichtig, dass wir eine gute Ausbildung bekommen. Meine jüngere Schwester ist Sozialarbeiterin wie ich, mein älterer Bruder arbeitet im VW-Werk. Sie wollte, dass wir auf eigenen Füßen stehen, auf keinen Fall vom Staat oder sonst jemanden abhängig sind.

Daraus habe ich jetzt aber immer noch nicht verstanden, warum Sie sich ausgerechnet mit Straffälligen befassen. Also, Sie hätten ja auch Sozialarbeiterin an einer Schule oder im Quartier oder sonst wo werden können.

Mich interessiert ehrlich gesagt, warum werden Menschen straffällig? Was passiert in ihrer Biografie, dass sie diesen Weg einschlagen, dass sie sich entscheiden, andere Menschen zu verletzen? Wie weit können sie gehen? Was macht das mit ihnen selbst? Und wie kann man diese Menschen da aus dieser Ebene wieder zurückholen?

Es gibt also kein Schlüsselerlebnis?

Nein, das ist eben das, was ich erlebt habe. Ganz prägend war für mich einfach diese Haltung, die meine Mutter vermittelt hat: Dieses urteile nicht, begegne jedem auf Augenhöhe und versuch einfach zu helfen und Leute auf den rechten Weg zurückzubringen. Bei vielen kannte ich ja auch die Hintergründe. Also die Elternhäuser, in denen vieles schwierig war oder einfach die Aufmerksamkeit fehlte. Bei mir war genau das Gegenteil: Meine Mutter war immer interessiert daran, was wir so machen in unser Freizeit. Sie hat das aber auch immer ganz geschickt gemacht: Also nicht so argwöhnisch, kontrollierend, was sind denn das eigentlich für welche, diese Freunde da? Sondern eher: Hey, ich habe hier eine Ladung Nuggets und Pommes, bring’die doch mal mit rein. Da reden wir heute noch von, wenn wir uns treffen. Und das sage ich auch immer den Eltern, mit denen ich zu tun habe: Interessieren Sie sich, lernen Sie die Freunde ihrer Kinder mal kennen – nicht erst, wenn es Ärger gibt und alles zu spät ist.

Wann haben Sie dann das erste Mal ein Gefängnis von innen gesehen?

Mit 18, also noch vor dem Studium, in einem Schulprojekt. Da gab es einen Pastor, der uns mit in die JVA Hameln genommen hat. Da sind wir auf Jugendliche in unserem Alter getroffen, die dort in Wohngruppen inhaftiert waren. Und ich habe einen alten Sandkastenfreund wieder getroffen, von dem wir dachten, er sei längst abgeschoben worden. Der hatte wiederum einen Kumpel aus Kamerun, der hier vollkommen allein war und hat gefragt, ob ich Mama oder Tante Oya nicht mal fragen könnte, ob sie sich kümmern kann. Haben wir natürlich. Wir sind bis heute wie Geschwister.

Und dann haben Sie sich im Studium auf den Bereich spezialisiert?

Selin Arikoğlu 39, ist Sozialarbeiterin und Kommunalpolitikerin. Sie lebt in Hannover und wuchs als Tochter einer alleinerziehenden türkischen Mutter in einem sozialen Brennpunkt auf. Heute engagiert sie sich hauptsächlich für Straffällige und ihre Familien.

Im Studium der Sozialen Arbeit habe ich schnell gemerkt, dass es mich auch immer wieder zu diesem Themenbereich hinzieht. Alles, was an Veranstaltungen mit Delinquenz und Straffälligkeit zu tun hatte, habe ich besucht. Alles, was mit der klassischen Jugendamtsarbeit zu tun hat, nicht so gern – obwohl ich jetzt trotzdem in diesem Bereich arbeite. Aber meine Praktika und Hospitationen und auch mein Anerkennungsjahr habe ich im Strafvollzug und verwandten Bereichen gemacht: In der Jugendstrafanstalt in Hameln, bei der Bewährungshilfe, der Jugendgerichtshilfe, in der JVA Uelzen.

Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht?

Dass man doch eine Menge bewirken kann, wenn man den Inhaftierten erst einmal mit Respekt und auf Augenhöhe begegnet, statt auf sie herabzuschauen oder sie zu verurteilen. Das soll nicht heißen, dass ich ihre Taten entschuldige. Ich sage meinen Studierenden immer: Habt Empathie gegenüber der Biographie, aber nicht gegenüber dem Delikt. Da kenne ich kein Pardon. Wer seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten von anderen, schwächeren Personen durchsetzt, braucht mit meinem Mitgefühl nicht zu rechnen. Das sage ich dann auch. Ich habe aber auch gelernt, dass ich nicht unbedingt die bin, die gern Einzelgespräche im Büro führt. Ich habe mir die lieber auf dem Hof geschnappt oder zum Beispiel Weihnachtsfeste oder Ramadanfeste in der Küche mit denen vorbereitet – am liebsten mit den Auffälligsten und Schwierigsten.

Und dann?

Dann habe ich eben den, der da meiner Beobachtung nach immer den Durchsetzungsstärksten spielte, beauftragt, die Messer im Auge zu behalten. „Herr X, das ist Ihre Verantwortung“, habe ich gesagt. Und zack hat der alle zehn Minuten durchgezählt und am Ende dafür gesorgt, dass ich die volle Anzahl zurückbekam.

Und wozu dann nun noch diese Vereinsgründung?

In meiner Doktorarbeit habe ich mich damit befasst, was straffällige junge Frauen mit einer Migrationsbiografie erleben. Und daraus haben sich eine ganze Reihe von Konzepten ergeben, an denen ich gern weiterarbeiten möchte. Dazu habe ich diesen Verein gegründet, den ich nach meiner Mutter benannt habe: OYA e. V.

Aber gibt es nicht schon eine ganze Reihe von Vereinen, die sich mit Resozialisierung befassen?

Ja, aber nicht so sehr mit den Angehörigen. Das Problem ist ja: Es steht immer erst einmal der Täter, die Täterin im Vordergrund. Aber die Angehörigen werden immer mitbestraft. Die werden stigmatisiert, stehen plötzlich in so einem Kontext von kriminellem Verhalten – und die haben keine Seelsorger, Psychologen oder Sozialarbeiter, die sich kümmern, wie es der Gefangene in der Justizvollzugsanstalt hat. Wobei ich immer aufpasse, hier nicht nur von Angehörigen zu reden, sondern allgemeiner von sozialen Kontakten – es gibt ja auch welche, die haben keine Familie hier oder keinen Kontakt mehr. Aber natürlich ist es vor allem in Kleinfamilien ein dramatischer Bruch, wenn da einer in den Vollzug kommt und der andere mit den Kindern alleine dasteht.

„Ich sage: Habt Empathie gegenüber der Biographie, nicht gegenüber dem Delikt“

Und wie hilft der Verein dann?

Wir versuchen, ganz individuell Hilfe anzubieten, und führen erst einmal Kennlerngespräche und Einzelgespräche. Dazu haben wir mittlerweile 43 ehrenamtliche Kräfte aus den unterschiedlichsten Bereichen plus fünf „Youngstars“ zwischen 14 und 20 Jahren, die sich bei uns engagieren. Darauf bin ich wahnsinnig stolz, ohne die wären wir nichts. Außerdem versuchen wir eben Aufklärungsarbeit zu leisten, zum Beispiel auch in Schulen.

Und an der Hochschule?

Ja, mit Studierenden der Sozialen Arbeit versuche ich das auch. Ich habe Lehraufträge in Holzminden, in Hannover und Hildesheim und versuche da angehenden Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen zu vermitteln, wie man mit Strafgefangenen arbeitet. Das kam in meiner Ausbildung ja auch oft nicht in der Tiefe und Gründlichkeit vor, die ich mir gewünscht hätte. Ich habe sogar ehemalige Strafgefangene, die sich bei uns engagieren, dazu gebracht, sich vor die Studierenden zu stellen, das gemeinsam zu erörtern, zu reflektieren, in den kritischen Austausch zu gehen. Es ist irre, was das für einen Effekt hat – auf beiden Seiten! Gerade haben wir gemeinsam ein Sozialtraining konzipiert: 15 Studierende und zwei Ex-Inhaftierte. Jetzt versuchen wir, das durch das Justizministerium freigegeben zu bekommen – dann kommt es in den Katalog mit den Behandlungsmaßnahmen und Programmen, die JVAs durchführen können, wenn sie das möchten.

Was macht der Verein sonst noch?

Gleichzeitig ist es mir wichtig, das Thema in die Gesellschaft und in die Politik zu tragen. Dazu haben wir jetzt auch einen Newsletter aufgesetzt – einfach um den Leuten eine Stimme zu geben, einen Raum, in dem sie ihre Geschichten erzählen können – und dabei auch nicht immer nur auf die Defizite zu schauen, sondern auch auf die Ressourcen. Es gibt auch noch eine Reihe von Projekten, die aufgrund der Pandemie jetzt ein bisschen auf Eis lagen. Zum Beispiel haben wir ein Bewältigungstraining für Frauen von Inhaftierten geplant – eine Mischung aus Gesprächsgruppe und Boxtraining. Außerdem möchten wir unbedingt wieder eine Weihnachtsfeier im Vollzug veranstalten. Das haben wir schon einmal gemacht, genauso zum Ende des Ramadan. Das ist eine Kleinigkeit, aber für die Väter ist das wahnsinnig wichtig – einfach diesen Moment mit ihren Kindern zu haben, mit einem kleinen Geschenk in der Hand. Wir haben Fotos gemacht, die hängen bei den meisten immer noch in der Zelle.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen