DFB-Team in der WM-Qualifikation: Gegen den Trend
Sehr bitter nennt DFB-Direktor Oliver Bierhoff die coronabedingten Ausfälle. Wie das deutsche Nationalteam dennoch gegen Liechtenstein gewinnen kann.
Die Grundvoraussetzungen
Die wichtigsten Entscheidungen in der WM-Qualifikationsgruppe J sind schon gefallen. Deutschland steht als Gruppensieger fest und Liechtenstein ist der letzte Platz nicht mehr zu nehmen. Beide Mannschaften können also befreit aufspielen. Gekickt wird am Donnerstag ab 20.45 Uhr in Wolfsburg, der Heimat des Hauptsponsors der DFB-Elf. Wer sich ein Ticket ergattern konnte (Preise zwischen 25 und 70 Euro), bekommt vor Ort ein Trikot der Nationalmannschaft in der Männergröße L. Für Ehrengast Joachim Löw, den langjährigen Trainer der Nationalmannschaft, dem in Wolfsburg 136 Tage nach dem Ausscheiden bei der EM gegen England, so etwas wie ein Abschiedsspiel geboten werden soll, könnte das eine Nummer zu groß sein.
Für den Stadionbesuch gilt die 2G-Regel. Ungeimpfte Spieler, die nicht von ihren Auswahltrainers nominiert wurden, dürfen also nicht als Zuschauer ins Stadion. Geleitet wird das Spiel von der Kroatin Ivana Martinčić. Es ist das erste Spiel einer deutschen Nationalmannschaft, das von einer Frau angepfiffen wird. Auch für Martinčić ist es eine Premiere. Sie hat noch nie ein Wettbewerbsspiel zweier Männernationalmannschaften gepfiffen.
Das Grundproblem
Überraschungen hat es im Fußball bei David-gegen-Goliath-Duellen stets gegeben. Gewohnt war man aber Kantersiege der Favoriten. Die taktische Entwicklung von Verteidigungsstrategien ist jedoch auf internationaler Ebene in den letzten zwei Dekaden so rasant vorangeschritten, dass zweistellige Erfolge häufig nur Fanträume bleiben.
Rudi Völler kann als Begründer der Realismus-Schule gelten, als er im Jahr 2003 ein torloses Remis in Island zum Anlass nahm, um wortgewaltig für mehr Respekt gegenüber vermeintlich „kleinen Nationen“ zu werben. Bereits damals wies er auf taktische Grundprobleme hin, die es den vermeintlich „großen Nationen“ schwer machen, ihre Überlegenheit gegen einen diszipliniert tiefstehenden Gegner auszuspielen. Impulse aus dem Mittelfeld und Bewegung habe im deutschen Spiel gegen Island gefehlt, erkannte er damals.
Das ABC im Spiel gegen den Ball ist auch für Fußballteams ohne besondere individuelle Klasse erlernbar. Umgekehrt scheitern immer wieder große Teams wie zuletzt Real Madrid gegen Sheriff Tiraspol (Moldawien) daran, Gegenstrategien umzusetzen.
Die defensive Lösung
Klar, gegen eine Mannschaft wie Liechtenstein (zwei Tore in acht Spielen), steht die Verteidigung erst mal nicht im Fokus. Doch auch hier gilt: In der Defensive wird die Grundlage der Spielorganisation gelegt. Für den Bundestrainer galt in den vergangen Spielen: Siegen lernen heißt von den Siegern lernen. Er hat sich Europameister Italien zum Vorbild genommen und setzt in der Defensive auf eine Viererkette, die sich nach Ballgewinn neu formiert.
Der asymmetrische Dreieraufbau war die Grundlage für den EM-Triumph der Italiener und kann für die deutschen zum Schlüssel für einen Erfolg gegen Liechtenstein werden. In seinen ersten fünf Partien als Bundestrainer hat Flick bereits gute Erfahrungen mit dieser Struktur gemacht. Der Clou dabei: Ein Außenverteidiger schiebt früh hoch, der andere Außenverteidiger bleibt tief und übernimmt bei Ballbesitz eine wichtige Rolle im Spielaufbau.
Gerade Gegner, die auf eine einfache Zuteilung setzen, werden durch die asymmetrische Grundordnung, die so entsteht, möglicherweise verunsichert. Der Vorteil gegenüber der abkippenden Sechs, bei der sich ein Spieler aus dem Mittelfeld zwischen die Innenverteidiger fallen lässt, während beide Außenverteidiger hoch schieben, ist das vergleichsweise organische Zustandekommen der hinteren Dreierreihe. Die Anfälligkeit für Konter sinkt dadurch. Ein langer Ball auf Liechtensteins Stürmer Yanik Frick sollte besser nicht ankommen. Dass der Tore schießen kann, hat er schon gezeigt. Er war der Torschütze bei der 1:4-Niederlage der Zwergstaatler gegen Island.
Die offensive Lösung
Der coronabedingte Ausfall des Mittelfeldstrategen Joshua Kimmich in der Zentrale wiegt schon schwer für die DFB-Elf. Wegen des positiven Tests von Niklas Süle müssen zudem die Kreativspieler Serge Gnabry sowie Jamal Musiala und der wegen seiner zuletzt gezeigten Treffsicherheit für einen Liechtenstein-Einsatz so prädestinierte Stürmer Karim Adeyemi in Quarantäne. Selbst mit Kimmich, Gnabry und Musiala reichte es im Hinspiel nur zu einem 2:0-Erfolg.
Herausfordernd für die deutsche Offeisive wird sein, dass bei Liechtenstein neben der abkippenden Sechs sich auch alle anderen Spieler wieder in Richtung des eigenen Strafraums fallen lassen werden. So ist es nahezu unmöglich, Bälle hinter die letzte Kette zu spielen. Wichtig wird es sein, die Elf von Liechtenstein durch Seitenverlagerungen in Bewegung zu halten und durch Sprints in offene Passräume Angebote für ein beschleunigtes Spiel zu machen. Der formstarke Leroy Sané (bereits im Hinspiel in St. Gallen Spieler des Spiels) sollte mit seinen Tempodribblings zusätzlich für Unruhe sorgen können.
Mehr Profit als im Hinspiel muss das DFB-Team aber aus seinem hohen Pressingverhalten bei Ballgewinn ziehen. Dazu ist eine höhere kollektive Zielgerichtetheit und Gedankenschnelligkeit erforderlich. Wird all das beherzigt, stehen die Chancen gut, dass das deutsche Team den Trend gegen Liechtenstein umkehrt. In den bisherigen Länderspielen gegen Deutschland seit 1996 konnte sich Liechtenstein stetig verbessern ( 1:9, 2:8, 0:6, 0:4 und ebenjenes 0:2 in St. Gallen).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Serpil Temiz-Unvar
„Seine Angriffe werden weitergehen“