Klimakonferenz in Glasgow: Die Kurve nach unten drücken
Glasgow zieht eine Zwischenbilanz der Klimapolitik. Viele Versprechen wurden gebrochen. Aber es gibt Entwicklungen, die Hoffnung machen.
Greta Thunberg nahm kein Blatt vor den Mund: Anders als Corona sei „die Klimakrise nie wie eine Krise behandelt worden“, rief die schwedische Klima-Aktivistin am 24. September bei ihrem Auftritt vor dem Berliner Reichstag in die Menge. Die Erde heize sich immer weiter auf, aber keine Partei lege Programme vor, „die auch nur in die Nähe kommen, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen“, rief Thunberg. „Wir sind ihnen einfach scheißegal!“
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Harte Worte. Allerdings sind sie von Fakten gedeckt. Seit dem Abschluss des Pariser Abkommens zum Klimaschutz im Dezember 2015 ist der weltweite CO2-Ausstoß aus fossilen Brennstoffen nicht etwa gesunken, sondern von 32,2 auf 33 Milliarden Tonnen gestiegen – trotz Corona-Einbruch der Konjunktur.
Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre hat sich seit der Pariser Konferenz von 399 auf 412,5 ppm gesteigert. Ein ppm entspricht einem Molekül Kohlendioxid pro einer Million Moleküle trockener Luft. Das Klimagift Methan legte ebenfalls kräftig zu. Auch die globale Durchschnittstemperatur klettert immer schneller: Lag sie 2015 noch ein Grad Celsius über dem Wert von 1850, waren es nur sechs Jahre später 1,07 Grad, warnte der UN-Klimarat IPCC.
UN-Generalsekretär António Guterres stimmt Thunberg zu, wenn auch in diplomatischer Sprache: „Wir wissen, dass die Unterzeichner des Pariser Abkommens bisher völlig versagt haben“, schimpft der UN-Chef mit Blick auf den UN-Gipfel in Glasgow (COP26). Dort sollen die Staaten Bilanz ziehen und festlegen, wie es weitergehen soll. In Paris wurde als mittelfristiges Ziel ausgegeben, „to bend the curve“, die Emissionskurve nach unten zu biegen.
Die Mittel dazu: mehr Anstrengungen bei der CO2-Reduzierung, angeführt von den reichen Ländern; alle fünf Jahre neue und immer ehrgeizigere Klimapläne der Länder (NDC im UN-Jargon); 100 Milliarden Dollar Finanzhilfen für die armen Länder pro Jahr ab 2020. In Glasgow wird jetzt abgerechnet: Gibt es eine realistische Chance, diese Kurve noch zu kriegen?
Maue Zwischenbilanz
Die Zwischenbilanz sieht mau aus: Die Emissionen sind gestiegen; viele wichtige Länder wie Indien oder China, Russland, Brasilien oder Saudi-Arabien haben keine oder sehr schwache Klimapläne vorgelegt. Daraus folgt: Die Welt ist auf dem Weg zu 2,7 Grad Erhitzung statt der versprochenen 2 oder 1,5 Grad. Das errechnete das Klimasekretariat UNFCCC. Statt bis 2030 wie gefordert um 45 Prozent zu sinken, würden die Emissionen sogar um 16 Prozent zunehmen.
Auch andere Versprechen wurden gebrochen: Die Detailregeln sind immer noch nicht fertig, statt der 100 Milliarden fließen 2020 wohl nur gut 80 Milliarden Dollar. Bis 2025 soll die Gesamtsumme allerdings erreicht werden, so kalkulierte diese Woche ein eilig einberufenes Gremium unter deutscher und kanadischer Führung.
Also alles nur „Blablabla“, wie es Greta Thunberg nennt? Die Lage ist komplexer. Einerseits gibt es gebrochene Versprechen und unerfüllte Erwartungen. Andererseits passiert vieles, damit der globale Klimaschutz nicht krachend vor die Wand fährt.
Beispiel CO2-Ausstoß: Es stimmt nicht, dass nichts passiert ist. Weltweit sind Emissionen aus Gas, Öl und Kohle seit 1990 um 56 Prozent gestiegen – aber in den klassischen Industriestaaten sind sie gesunken: in den USA um etwa 10 Prozent, in der EU um 24, in Deutschland um knapp 40 Prozent.
Der CO2-Ausstoß hat sich teils vom Wohlstand entkoppelt
Gleichzeitig ist die Wirtschaft in diesen Regionen, teilweise deutlich, gewachsen. Der CO2-Ausstoß hat sich vom Wohlstand „entkoppelt“ – selbst wenn man berechnet, dass Emissionen durch Importe etwa von Stahl oder anderen Produkten „ausgelagert“ wurden.
Das geht alles nicht schnell genug, zeigt aber: Klimaschutz und Wachstum müssen keine Gegensätze sein. Das ist vor allem für Schwellenländer bedeutsam. Denn das Wachstum bei den schädlichen Klimagasen kommt heute aus China, Indien, Indonesien, Iran, Südkorea, die mit fossil befeuertem Wachstum die Armut bekämpfen.
Für Fortschritte in Glasgow spricht aber auch ein zynischer Grund: Die galoppierende Klimakrise erreicht inzwischen auch die reichen Länder, die auf der Klimakonferenz den Ton angeben. Australien versank Ende 2019 in einer Flammenhölle, auch in Kanada, Russland und den USA brennen die Wälder, in Deutschland schockierten im Sommer die Toten der Überschwemmungen.
Die Klimakonferenzen werden unwichtiger
Die Hitze- und Dürresommer haben zumindest in Europa das Klimathema auch politisch durch die Proteste der Fridays for Future auf die Tagesordnung gesetzt. Nun wollen plötzlich etwa 100 Länder klimaneutral werden: die USA und die EU bis 2050, China und Russland bis 2060, Vorreiter wie Norwegen sogar schon unter Bedingungen bis 2030. Werden alle diese „Langzeitziele“ Realität, rechnet die UNO damit, dass die Welt den Klimawandel auf 2,2 Grad begrenzen könnte. Allerdings hat bisher nur die EU mit ihrem „Fitfor55“-Paket einen konkreten Fahrplan dafür vorgelegt.
Scheinbar paradox: Glasgow könnte auch wichtig werden, weil die Klimakonferenzen unwichtiger werden. „Nichtstaatliche Akteure“, wie das im UN-Jargon heißt, also Unternehmen, Städte, Forschungsinstitute, Lobbyverbände oder Universitäten treiben inzwischen Klimapolitik voran und die Staaten manchmal vor sich her.
In der „Science Based-Target Initiative“ etwa verpflichten sich Unternehmen dazu, ihre Geschäftspolitik wissenschaftlich fundiert an Null-Emissionen auszurichten. Viele große Konzerne wie Ford, Pfizer und Vattenfall sind dabei. Inzwischen fordert der Bundesverband der deutschen Industrie von der Bundesregierung mehr Ökostrom, neue Stromleitungen, besser gedämmte Häuser und mehr grünen Wasserstoff.
Auch vielen Staaten ist die UN-Konferenz zu träge. Wer etwas erreichen will, gründet einen „Club der Willigen“: Die USA und die EU reduzieren so den Klimakiller Methan, Gastgeber Großbritannien unterstützt Koalitionen von Ländern, die sich den Kohleausstieg, das Ende des Verbrennungsmotors oder ein Verbot der Öl- und Gasförderung, wie von Dänemark und Costa Rica gefordert, auf die Fahnen schreiben.
Stuhlkreis-Politik mit Zähnen
Das Pariser Abkommen setzt auf Freiwilligkeit der Staaten und hat Sanktionen vermieden. Diese Stuhlkreis-Politik hat aber inzwischen ein paar Zähne bekommen. Thinktanks und Stiftungen wie Climate Analytics, das World Resources Institute oder die Agora Energie/Verkehrswende übernehmen im Machtvakuum die „Aufsicht“ über den Prozess.
Dazu kommen der Druck aus den Medien und immer mehr auch von Banken, Versicherungen und Unternehmensprüfern. Vor allem Investoren haben begonnen, kritisch die Bilanzen von Unternehmen und Investmentfonds auf Klimarisiken zu durchleuchten: Der Investmentgigant Blackrock nannte Klimaschutz 2019 „zentral“ für seine Geschäftspolitik.
An diesem Wochenende startet der Klimagipfel in Glasgow. Das 1,5-Grad-Ziel scheint utopisch – oder kann aus Glasgow doch Paris werden? Außerdem in der taz am wochenende vom 30./31. Oktober: 10 Jahre nachdem der rechtsterroristische NSU aufgeflogen ist, sind noch immer viele Fragen offen. Und: Eine 85-jährige Akrobatin, eine Konditorin und viele schöne Kolumnen. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Seit Paris hat das Abkommen immerhin einen schweren Schock verdaut: Dem Austritt der USA unter dem Wissenschaftsfeind Donald Trump folgte nicht einmal der brasilianische Populist Jair Bolsonaro, weil er Sanktionen fürchtete. Inzwischen wird debattiert, wie ein „gerechter Übergang“ von fossilen zu erneuerbaren Energien aussehen kann. Der deutsche Ausstieg aus der Braunkohle mit 40 Milliarden Euro Strukturhilfen gilt vielen als Vorbild.
Natürlich geht das alles bisher viel zu langsam. Die Investitionen in saubere Energietechnik und ins Energiesparen müssten sich in den nächsten Jahren verdrei- bis vervierfachen, mahnt die Internationale Energieagentur, wenn das 1,5-Grad-Ziel erreicht werden soll. Neue fossile Projekte darf es nicht mehr geben. Die Emissionen müssen schnell und drastisch sinken, die Vernichtung der Regenwälder muss sofort aufhören, auch um die Artenvielfalt zu schützen. Ansätze sind da, mehr nicht.
Der Widerwille gegen Veränderung
Deutlich wird in Glasgow: Der wirkliche Gegner der Klimapolitik ist nicht mehr der Glaube an die ewige fossile Weltherrschaft, sondern der strukturkonservative Widerwille gegen Veränderung: Auch wenn eine neue Solaranlage billiger ist, läuft das alte Kohlekraftwerk aus Bequemlichkeit erst mal weiter. So hat die Verbrennung von Kohle neue Höhen erreicht, warnt der Chef der Internationalen Energieagentur, Fatih Birol: „Der immens ermutigende Schwung der Erneuerbaren läuft sich gegen die hartnäckige Widerstandskraft der Fossilen fest.“
Es fehlen weder die Technik noch das Geld noch die Ideen für die Klimawende. Es braucht vor allem den politischen Willen, die alten Seilschaften zu kappen und neue Allianzen zu gründen. Wie flexibel die Staaten und Unternehmen reagieren können, hat nach Meinung vieler KlimaschützerInenn die Coronapandemie gezeigt: Plötzlich war praktisch unbegrenzter politischer Wille da, fast unbegrenzte finanzielle Ressourcen und eine Technologie, die in atemberaubendem Tempo das Problem lösen konnte.
Schnelles Handeln nun ausgerechnet von einer UN-Konferenz zu erwarten, wo jeder alles blockieren kann, wäre ein bisschen zu optimistisch. Aber die Zwischenbilanz in Glasgow zeigt auch, dass die UNO vielleicht bei der Klimakrise ihre Schuldigkeit getan hat: Sie hat lange und laut vor der Bedrohung gewarnt, das Thema im globalen Diskurs verankert, den Stimmen der Armen und Entrechteten aus dem Globalen Süden Gehör verschafft und die wissenschaftlichen Leitplanken angeschraubt.
Die Entscheidungen aber fallen anderswo. Wenn es die StaatenlenkerInnen der G20-Staaten nicht schaffen, deren Volkswirtschaften immerhin für 80 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich sind, liegt es an den vielen: den Unternehmen, Thinktanks, Regionen, Stiftungen, Städten, Gewerkschaften und politischen Einheiten auf allen Ebenen, die sich in Glasgow vernetzen, aber nicht in den langwierigen UN-Prozess eingebunden sind.
Wenn die COP26 die Entwicklung außerhalb der Konferenz voranbringt, wäre das ein Erfolg. Die Zeit drängt, dieses Jahrzehnt entscheidet darüber, ob die 1,5-Grad-Grenze überhaupt möglich bleibt. Und von dieser Dekade sind schon wieder zwei Jahre vergangen.
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