Regisseur über Serie „Colonia Digniad“: „Die Toten schweigen nicht“
Der Bremer Filmemacher Wilfried Huismann erzählt in seiner Netflix-Doku-Serie „Colonia Digniad“ von der totalitären Sekte des Päderasten Paul Schäfer.
taz: Herr Huismann, der Prediger Paul Schäfer floh in den frühen 1960er-Jahren als Päderast von Deutschland nach Chile. Dort gründete er die Siedlung „Colonia Dignidad“, in der er jahrzehntelang Kinder missbrauchte und die dem Regime von Augusto Pinochet als Folterzentrale diente. Wie sind Sie zu diesem Stoff gekommen?
Wilfried Huismann: Ich kenne die Geschichte ja schon lange. Als ich 1981 in Chile bei einer linken Lehrerin wohnte, brachte sie immer Leckereien wie Wurst und Käse mit nach Hause, und als ich sie fragte, wo das herkommt, war es ihr peinlich, denn es kam aus der Colonia. Alle wussten und wissen darüber Bescheid, und deswegen wollte ich nie etwas zu dem Thema machen.
Aber?
Dann gab es die Gelegenheit, mit dem Archivmaterial der Colonia zu arbeiten, das verschiedene Kameraleute seit 1958 gedreht haben. Schäfer wollte seine historische Mission für Generationen auf Film gesichert haben. Die haben viele Propagandafilme gemacht, aber auch vieles vom Leben dort so mitgedreht. Und für uns gab es so die Gelegenheit, da auf eine andere Weise reinzuschauen.
Diese Propagandafilme sind ja auch sehr aufschlussreich: Es sind große Inszenierungen mit Chorkonzerten und jungen Knaben, die in Lederhosen Schuhplattler tanzen. Auch dadurch ist dies ein Lehrstück darüber, wie ein totalitäres System funktioniert. In der ersten Folge Ihrer Serie sagt nun eine Frau sogar, der junge Schäfer habe sie an Adolf Hitler erinnert. War er Schäfers Role Model?
Was seine Fähigkeit als Rattenfänger angeht, hat er viel von Hitler gelernt. Aber das haben ja auch andere. Die Geliebte von Castro, Marita Lorenz, hat mir erzählt, Fidel habe Reden von Hitler auswendig rezitiert, weil er von ihm lernen wollte, wie man die Massen verführt.
70, ist Journalist, Autor und Filmemacher und wohnt in Bremen. Für seine Arbeit bekam er insgesamt drei Adolf-Grimme-Preise. „Colonia Dignidad“ ist seine erste Serie für den Streamingdienst Netflix.
Und hat Schäfer mit seinem kleinen Staat im Staat nicht auch die Prinzipien des Faschismus umgesetzt?
Er hatte sein eigenes totalitäres System, und das war noch viel perfekter als Nazideutschland. Denn bei ihm haben nicht 50 oder 60 Prozent, sondern alle mitgemacht. Wenn sich mal jemand gewehrt hat, wurde der so brutal gebrochen, geschlagen und gefoltert, dass sie dann auch ganz dazugehörten. Dies war auch ein großer Menschenversuch.
Und sie erzählen davon mit einem langen, epischen Atem. In den sechs Folgen der Serie gibt es eine Darstellung des chilenischen Staatsstreichs durch Pinochet, gleich zwei dramatische Fluchtgeschichten, eine außergewöhnliche Liebesgeschichte – und der Schluss ist im True-Crime-Stil inszeniert. Wie war es für Sie, mit so großer Palette arbeiten zu können?
Das ist wie der Unterschied zwischen einer Kurzgeschichte und einem Roman. Man kann viel weiter ausholen, aber es war auch eine riesige Herausforderung für mich. Aber wenn man wie ich 30 Jahre lang immer mit dem gleichen 45-Minuten-Format gearbeitet hat, dann wird das schon vor der Form her irgendwann langweilig.
Vor anderthalb Jahren lief eine andere Version Ihrer Dokumentation auf Arte und dem WDR. Wie unterscheiden sich die beiden Serien?
Am Anfang war geplant, nur eine einzige zu machen, etwas länger bei Netflix und kürzer bei Arte/WDR. Aber dann war die Redaktionsleitung des WDR der Meinung, ganz ohne journalistischen Kommentar geht das nicht. Da wären die Zuschauer*innen überfordert – „man muss sie an die Hand nehmen“. Das ist so ein Standardsatz bei der ARD. Für mich war das ein massiver Eingriff in die künstlerische Freiheit als Autor und Regisseur und ich habe dann entschlossen, mich davon zurückzuziehen. Co-Regisseurin Annette Baumeister hat das dann zu Ende gebracht. Die Serie ist auch nicht schlecht, aber sehr konventionell und ängstlich. Man setzte wenig Vertrauen in das Filmmaterial und das dokumentarische Erzählen.
Sie haben über 30 Jahre lang die meisten Ihrer Arbeiten für den WDR gemacht. Wie schwer war dieser Bruch?
Das war für mich der einzige Schritt, den ich machen konnte. Ähnliche Konflikte hatte ich ja vorher auch schon gehabt. Mich störte diese Tendenz, sich von oben in alles einzumischen, die Freiheit der Autoren einzuschränken und alles zu normieren und zu formatieren. Die Arbeitsbedingungen waren für mich in den 1980er- und 1990er-Jahren viel besser als jetzt.
Inwiefern?
Es ist nun autoritärer und hierarchischer als vor 30 Jahren. Und ich weiß, dass es vielen Autoren und Autorinnen, die für die ARD-Anstalten arbeiten, auch so geht. Die sind heilfroh darüber, dass es im Privaten jetzt solche Alternativen wie Netflix gibt: Da kann man freier arbeiten. Aus welchen Motiven auch immer, geben sie uns mehr Raum, weil sie so interessantere und kreativere Produkte kriegen. Und es ist traurig, dass eine von uns so hoch finanzierte Institution wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk so jämmerlich dasteht.
Was haben Sie denn nun konkret anders gemacht?
Wir haben wundervolle Protagonist*innen, an deren Lebensgeschichten entlang man die 50 Jahre lange Entwicklung der „Colonia Dignidad“ erzählen kann. Da braucht man überhaupt keinen überschlauen Journalisten, der den Leuten alles erklärt. Man bekommt, soweit uns das möglich war, ein ziemlich komplettes Bild von der Realität in den 50 Jahren der Gemeinde von Paul Schäfer.
Was war neu an den Arbeitsbedingungen?
Die Serie „Colonia Dignidad: Eine deutsche Sekte in Chile“ ist auf Netflix zu sehen
Da gab es keinerlei Einmischung. Im Gegenteil: Da war die Freude groß, dass wir keinen Kommentar hatten, weil das bei denen als altbacken und überholt gilt. Denn vor allem junge Zuschauer*innen können es nicht ausstehen, wenn man ihnen immer sagt, was sie gleich sehen werden, was sie denken und was sie fühlen müssen. Das ist Schulfernsehen für sie.
Macht es etwas aus, dass Netflix ein globaler Medienkonzern mit Zentrale in Los Angeles ist?
Die sitzen ja inzwischen überall und haben auch ein Büro in Berlin. Aber wir hatten tatsächlich mit zwei Redakteuren in Los Angeles zu tun, die beide zur Lateinamerika-Abteilung gehören. Als wir denen den ersten Rohschnitt geschickt haben, kam schon nach ein paar Tagen eine drei oder vier Seiten lange Rückmeldung mit Sachen, bei denen sie recht hatten. Das war sehr konstruktiv. Und die sehen das auch als ein universelles Thema. So starten sie weltweit mit Untertiteln in 33 Sprachen. Synchronisiert ist nur die deutsche Fassung mit Daniel Brühl als Hauptsprecher.
Ab heute kann man Ihre Serie beinahe weltweit sehen.
Ich denke, dass die Serie vor allem in Chile eine große Wirkung haben wird. Sowohl gesellschaftlich wie auch kulturell. Das deutsch-chilenische Verhältnis wird wohl neu diskutiert werden. Das merkt man schon an den ersten Reaktionen dort. Bis jetzt haben alle Regierungen, die linken wie die rechten, es geschafft, an diesem Thema bloß nicht zu rühren und viele der Verbrechen möglichst nie aufzuklären. Und das geht nicht. Die Toten schweigen nicht. Die reden jetzt wieder. Und es macht natürlich auch Spaß, wenn man daran mitwirken kann.
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