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80 Jahre Massaker bei KiewPicknick oder Gedenken

Vor 80 Jahren erschossen Nazis und Helfer 33.771 Jüdinnen und Juden in Babyn Jar nahe Kiew. Heute wird um den Ort und das Gedenken gerungen.

Grünanlagen im Park von Babyn Jar nahe Kiew Foto: Andreas Stein/dpa

Nur wenige hundert Meter vom U-Bahn-Ausgang Dorogoshitschi entfernt, wo abgehetzte KiewerInnen ihre Masken wieder ablegen, einige von ihnen sich am Kiosk eine Cola und ein „Wiener Küchlein“ holen, andere nervös nach der Fahrkarte kramen, dort wo der grüne Park beginnt, fand das Massaker von Babyn Jar statt.

Vor genau 80 Jahren, am 29. und 30. September 1941, kurz nach der Eroberung Kiews durch die Wehrmacht, erschossen hier innerhalb von zwei Tagen deutsche SS- und Polizeieinheiten mit Unterstützung der Wehrmacht sowie ukrainischen Helfern 33.771 Jüdinnen und Juden. Es war das größte einzelne Massaker im Zweiten Weltkrieg. Hier auf dem Gelände neben der U-Bahn-Station kann man an Mahnmalen nachvollziehen, welche Schrecken jene ukrainischen Jüdinnen und Juden an diesem Ort 1941 erlebt haben. Wenn man es denn will.

Denn die meisten BesucherInnen dieses Parks, der zugleich Gedenkstätte ist, scheinen das nicht zu wollen. Jogger mit Handy in der Hand rennen durch den Park, junge Familien machen es sich mit einer Decke und einem Picknickkorb bequem, an anderer Stelle sonnt sich ein junger Mann auf dem Bauch liegend auf einer Parkbank und Kinder tummeln sich an einem eisernen Wagen. Wahrscheinlich wissen weder sie noch ihre Eltern, dass dieser Wagen an die ebenfalls hier ermordeten Roma erinnern soll.

Artur Solotarenko, Leiter des staatlichen Museums im Nationalen Historischen Memorial-Komplex Babyn Jar, findet dieses Nebeneinander von Erholungsort und Erinnerungsstätte unpassend. „Ich finde, man sollte dieses Gelände umzäunen, so wie es an der Gedenkstätte in Auschwitz gemacht worden ist“, sagt er. Dann deutet er auf eine Stelle unweit des U-Bahn-Ausganges: „Hier hatten wir einen Graben von 30 Metern Tiefe und dieser war am 30. September 1941 bis an den Rand voller Leichen, das Blut ist in Bächen geflossen.“

Babyn Jar und die Erholungssuchenden

Vielen sei gar nicht bewusst, dass sie sich an einem Ort einer großen Tragödie befinden. Fast 45 Prozent der UkrainerInnen wissen nicht, wo Babyn Jar liegt. Das hat das Kiewer Internationale Institut für Soziologe erst kürzlich durch eine Umfrage herausgefunden.

Sehr unglücklich die Bezeichnung ‚Kristall­klage­mauer‘, sagt ein älterer Herr im Vorbeigehen

Die Möglichkeit im Park picknicken zu können oder sich zu sonnen, würde Solotarenko gerne einschränken. Ein einfaches Unterfangen sei dies nicht, sagt er. Babyn Jar sei für die gestressten Stadtbesucher ein Erholungsgebiet mitten in der Stadt. Dies einfach zu sperren, könnte zu sehr viel Unmut führen. Und auch für die Eltern derer, die sich jetzt im Park tummeln, war dies in der Vergangenheit ein Park und keine Erinnerungsstätte. Schon zu Sowjetzeiten wollte man die Geschehnisse von Babyn Jar verdrängen. Damals sei der Ort ein „Park der Kultur und der Erholung“ gewesen, sagt Solotarenko.

Einer, der genau weiß, was hier passiert ist, ist der 86-jährige Michail Sidko. Er ist heute der einzige Überlebende von Babyn Jar. Zum Zeitpunkt des Massakers war er sechs Jahre als. Als die Deutschen am 19. September 1941 in Kiew einmarschiert waren, seien sie von Bewohnern der Stadt, unter ihnen auch Juden, mit Salz und Brot begrüßt worden, erzählte Sidko, der seit 2000 in Israel lebt, gegenüber dem ukrainischen Fernsehen im Jahr 2016. Man habe nicht geglaubt, dass die Deutschen den Menschen in der Besatzung etwas Schlimmes antun würden.

Auch nicht, als am 28. September 1941 in Aushängen die Juden der Stadt aufgefordert wurden, am darauffolgenden Tag unweit der Schlucht Babyn Jar zu erscheinen, mit den wichtigsten Habseligkeiten, Dokumenten und Verpflegung für drei Tage. Auch Sidko ging mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern am 29. September 1941 zur Melnikow Straße in der Nähe von Babyn Jar. Musik sei gespielt worden für die Menschen, die angeblich evakuiert werden sollten. Dass diese Musik den Zweck hatte, die Schüsse zu übertönen, hatten die TeilnehmerInnen dieses Marsches erst begriffen, als es schon kein Zurück und keine Fluchtmöglichkeit mehr gab.

Michail Sidko und sein Bruder Grischa hatten Glück

„Am Schlagbaum hatten die Deutschen die Ankommenden in kleine Gruppen eingeteilt“, erzählte Sidko. Eine alte Frau könne er nicht vergessen, die noch am Schlagbaum zu den Soldaten gesagt habe, sie habe den Anschluss an ihre Familie verloren, man solle sie noch durchlassen, damit sie gemeinsam mit ihrer Familie evakuiert werden könne. „Man hat sie nicht durchgelassen und so hat sie fünf Minuten länger leben können als ihre Familie.“ Michail Sidko und sein Bruder Grischa hatten Glück. Während vor ihren Augen ihre Mutter erschossen wurde, hatte ein Soldat den beiden Jungen zugeraunt, sie sollten einfach schnell verschwinden.

Wie erinnert man an ein solches Verbrechen an einem Ort, der heute für die meisten StadtbewohnerInnen nichts mit dem Schrecken von damals zu tun hat? Der staatliche Nationale Historische Memorial-Komplex Babyn Jar jedenfalls hat große Pläne. In den nächsten zwei Jahren wolle man eine „Allee der Rechtschaffenen“ einrichten, erzählt der Leiter Artur Solotarenko. In dieser Allee sollen Bücher ausliegen, in denen alle Ukrainer aufgelistet sind, die Juden und anderen Verfolgten das Leben gerettet haben.

War das Gedenken an die Opfer von Babyn Jar bis 2016 vorwiegend ein Anliegen einiger, vor allem jüdischer Gruppen, gibt es heute zwei Organisationen, die an die Tragödie erinnern. Nur: Beide arbeiten eher gegeneinander als miteinander. Neben dem staatlichen Erinnerungspark, für den Solotarenko arbeitet, gibt es seit 2016 am selben Ort das private Holocaust Memorial Center Babyn Yar, in dessen Beirat unter anderem auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko sitzt.

Dass dieses ausgerechnet von den russischen Oligarchen Pawel Fuchs, German Chan und Michail Fridman finanziert wird, ist für viele ein Ärgernis. Wenig wohlwollend spricht Artur Solotarenko über die Konkurrenz, die mehr Geld und mehr Publicity habe. Nach Angaben des Portals lb.ua haben die Oligarchen 100 Millionen Dollar für das Memorial Center zur Verfügung gestellt. „In Russland kann man als Oligarch nur überleben, wenn man sich gut mit der Regierung und Putin stellt“, sagt Solotarenko. Und in der Tat gehören German Chan und Michail Fridman vom russischen Unternehmen Alpha Group zu den ­Großen unter den russischen Oligarchen.

Umstrittener künstlerischer Leiter

Umstritten ist auch der künstlerische Leiter des „russischen“ Projekts, Ilja Chrschanowski. 2020 hatte ­Chrschanowskis Film „Dau – Degeneration“ einen Sturm der Empörung ausgelöst, weil er Szenen zeigte, in denen Kleinkinder gefesselt und gequält werden. Außerdem warfen Frauen dem Regisseur übergriffiges Verhalten und Machtmissbrauch vor, wie die taz 2020 berichtete. Seitdem wird aus verschiedenen Lagern die Absetzung Chrschanowskis gefordert.

Als Chrschanowskis Pläne für das Babyn Yar Holocaust Memorial Center bekannt wurden, kündigten zwei Mitarbeiter ihre Teilnahme am Projekt: der als leitender Kurator der Ausstellung engagierte österreichische Kunsthistoriker und Museumsplaner Dieter Bogner und der niederländische Historiker Karel C. Berkhoff. Chrschanowskis Konzept sah vor, BesucherInnen durch interaktive Elemente in die Rolle von Opfern, von Kollaborateuren, Deutschen oder Kriegsgefangenen zu versetzen.

Der Skandal um Chrschanowski hat sich ein Jahr danach gelegt, doch rund um das Holocaust Memorial Center gibt es neue Konflikte. Eine sogenannte symbolische Synagoge, die in einem Projekt aus Eichenholz angefertigt wurde, steht auf dem Gelände eines alten christlich-orthodoxen Friedhofs. In einem offenen Brief hatten das Ende 2020 ukrainische Juden, unter ihnen Joseph Sisels, Co-Präsident des Verbandes jüdischer Organisationen und Gemeinschaften (Vaad) der Ukraine, kritisiert.

Der Versuch, eine Synagoge auf dem Gelände des orthodoxen Friedhofs zu bauen, sei ein Affront gegen jüdische geistige und moralische Werte, heißt es darin. Wer heute das Gelände durchschreitet, kann den Lärm von Baumaschinen nicht überhören. Emsig arbeitet das Holocaust Memorial Center an neuen Projekten. So will man noch bis zum 6. Oktober eine 40 Meter lange und drei Meter hohe „Kristallklagemauer“ und ein symbolisches Hügelgrab fertigstellen. „Sehr unglücklich die Bezeichnung ‚Kristallklagemauer‘“, sagt ein älterer Herr im Vorbeigehen. Wenn er das Wort Kristall höre, falle ihm als erstes die „Kristallnacht“ ein. „Keine schöne Assoziation.“

Angesichts der zahlreichen Konflikte um die Gedenkstätte sehen viele mit gemischten Gefühlen dem 6. Oktober entgegen, an dem man dem 80. Jahrestag des Massenmordes von Babyn Jar gedenken will. Weil Ende September das jüdische Fest Simchat Tora stattfindet, hat man die Feierlichkeiten verlegt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird dann in Babyn Jar anwesend sein, ebenso die Staatsoberhäupter der Ukraine und Israels, Wolodimir Selenski und Isaac Herzog.

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