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Sexualisierte Gewalt gegen KinderZu Hause in der Falle

Eine Studie zeigt, wie es Tätern gelingt, sexualisierte Gewalt gegen Kinder zu vertuschen. Die Opfer suchen oft Hilfe – doch nur selten wird ihnen geglaubt.

Zu Hause in Sicherheit? Trotz Gewalt erhalten Familien den Schein der Normalität aufrecht Foto: Roberto Pfeil/dpa

Berlin epd | Fast jedes zweite Kind, das in seiner Familie sexualisierte Gewalt erleidet, wird von seinem Vater, Stief- oder Pflegevater missbraucht. Das geht aus einer Studie hervor, die auf der Auswertung von Betroffenenberichten beruht und am Dienstag in Berlin von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs vorgestellt wurde.

Danach machen Väter 48 Prozent der Täter aus; Mütter, Stief- und Pflegemütter 10 Prozent. Außerdem berichten die Betroffenen von Onkeln, Brüdern, Großvätern und anderen überwiegend männlichen, aber auch weiblichen Verwandten als Täter und Täterinnen. Viele Kinder erlebten die Gewalt durch mehr als eine Person innerhalb und außerhalb der Familie. Bei fast jedem zweiten Kind begann die Gewalt vor dem sechsten Lebensjahr, dauerte viele Jahre und wurde nur selten durch Eingriffe von außen beendet.

Die Wissenschaftlerinnen der Frankfurter Goethe-Universität sehen eine Erklärung darin, dass die Scheu in Familienangelegenheiten einzugreifen besonders groß ist – nicht nur bei Privatpersonen, sondern auch bei Fachkräften des Jugendamts.

Viele Betroffene hätten berichtet, dass ihre Familien sogar Kontakt zum Jugendamt hatten, von dort aber keine Hilfe gekommen sei, sagte die Leiterin der Studie, die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen, die auch der Aufarbeitungskommission vorsitzt. Bei den Ämtern hätten oft die Interessen anderer Familienmitglieder im Fokus gestanden.

„Kein Kind kann sich allein schützen“

Den Täterinnen und Tätern gelingt es der Studie zufolge vielfach, den Schein der Normalität aufrechtzuerhalten. Sie bringen die Kinder mit Drohungen zum Schweigen. Im Familienalltag ist die Gewalt häufig eng verwoben mit der Erziehung, mit Strafen, Ritualen, aber auch Fürsorge. Der Schutzraum Familie werde zur „dramatischen Falle“, sagte Andresen. Dass selbst Mütter Täterinnen sein können, sei wichtig zu wissen, erklärte eine der Autorinnen der Studie, Maria Demant, damit den Betroffenen geglaubt werde, wenn sie solche Übergriffe schildern.

„Sexueller Kindesmissbrauch ist keine Privatangelegenheit“, betonte Andresen. Die Kinder müssten sich darauf verlassen können, dass der Schutz der Privatsphäre nicht dazu führe, dass sie selbst schutzlos sind. Tatsächlich erlebten die meisten Betroffenen aber, dass sie alleingelassen wurden.

Angela Marquardt vom Betroffenenbeirat beim Missbrauchsbeauftragten sagte, die Studie spiegele die persönlichen Erfahrungen und die gesellschaftlichen Defizite wider: „Die Gesellschaft hat nicht das Recht, die Kinder in diesen Familien alleinzulassen“, sagte Marquardt: „Kein Kind kann sich allein schützen.“

Der Studie zufolge hatte sich die Hälfte der Kinder zu irgendeinem Zeitpunkt an Erwachsene gewendet, fast jedes fünfte Kind oder Jugendliche an die Mutter, ein sehr kleiner Teil an die Väter, weniger als zehn Prozent an andere Familienmitglieder und fünf Prozent an Personen außerhalb der eigenen Familie. Häufig hätten andere Erwachsene oder Familienmitglieder von der sexualisierten Gewalt gewusst, aber geschwiegen und nicht geholfen.

Die Ergebnisse der Studie beruhen auf der nicht repräsentativen quantitativen und qualitativen Auswertung von 870 persönlichen Berichten. Diese stammen aus 680 mündlichen vertraulichen Anhörungen und 190 schriftlichen Schilderungen von Menschen zwischen 16 und 80 Jahren, die sich an die Kommission gewendet haben, um ihre Geschichte zu erzählen. Die Studie umfasst den Tatzeitraum von 1945 bis zur Gegenwart.

Andresen sagte, es sei zentral, die Berichte der Betroffenen ins Zentrum zu stellen. Von ihnen könne man lernen, was ihnen geholfen hätte: gut informierte, handlungsfähige Erwachsene. Man wisse viel zu wenig darüber, wie Kinder sexuelle Gewalt in der Familie erleben und wie sie damit umgingen. Eine der zentralen Fragen sei: „Wo sind die Dritten, die helfen können?“, sagte Andresen.

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