Noch mehr Abgeordnete im Parlament: Wird der Bundestag mega?
Im Plenarsaal dürfte es nach der Wahl eng werden. Die Opposition hat frühzeitig davor gewarnt, doch Union und SPD ignorierten das.
Der Bundestag wird nach dem Verhältniswahlrecht mit einer Mehrheitswahlrechtskomponente gewählt. Eigentlich hat er eine Sollgröße von 598 Sitzen: In der Theorie steht 299 direkt in ihrem Wahlkreis gewählten Abgeordneten die gleiche Anzahl an Abgeordneten gegenüber, die über einen Listenplatz ihrer Partei den Sprung ins Parlament schaffen. Wobei für die Stärke der Parteien die Zweitstimmen entscheidend sind.
Doch dieses Fifty-fifty-Ideal gab es nur zwischen 1965 und 1976. Vor und danach gab es stets sogenannte Überhangmandate, weil die eine oder andere Partei in einem oder mehreren Bundesländern mehr Direktmandate holte als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis an Parlamentssitzen zugestanden hätte.
Bis zur Wahl 2009 wurden Überhangmandate nicht ausgeglichen. Das war prima mal für die Union, mal für die SPD, mal für beide. Denn dadurch waren die großen Parteien noch größer im Parlament vertreten. Dann jedoch kippte das Bundesverfassungsgericht diese Verzerrung des Wähler:innenwillens. Deswegen werden seit der Bundestagswahl 2013 Überhangmandate für die eine Partei durch Ausgleichsmandate für die anderen ausbalanciert. Das jedoch birgt die Gefahr einer starken Vergrößerung des Parlaments.
So kam die Union bei der Wahl 2017 auf ein Zweitstimmenergebnis von 32,9 Prozent, holte jedoch 77,3 Prozent der Direktmandate, was ihr 43 Überhangmandate bescherte. Weil die jeweiligen Landesergebnisse ausschlaggebend sind, gingen drei weitere Überhangmandate an die SPD. Im Gegenzug gab es insgesamt 65 Ausgleichsmandate: 19 für die SPD, 15 für die FDP, 11 für die AfD und jeweils 10 für Linkspartei und Grüne. Dadurch zogen 709 Abgeordnete in den Bundestag ein. Das war Rekord.
Ein XXL-Bundestag ist möglich
Dieses Mal könnten es noch mehr werden. In der jetzt ablaufenden Legislaturperiode stritten sich die Parteien heftig, wie es gelingen kann, den Trend zu einem immer größeren Parlament zu stoppen und sich dem alten Fifty-fifty-Ideal wieder anzunähern. Grüne, FDP und Linkspartei schlugen eine recht weitgehende Wahlrechtsreform vor.
Aber Union und SPD verständigten sich lieber auf ein kleines Reförmchen. Danach sollen bei der Wahl am Sonntag nun Überhang- und Ausgleichsmandate einer Partei zum großen Teil miteinander verrechnet, aber auch bis zu drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden. Warnungen der Opposition, dass sich dadurch eine weitere Ausdehnung des Parlaments nicht verhindern lässt, schlugen sie in den Wind.
Das könnte sich jetzt rächen. Verantwortlich dafür: der prognostizierte Zweitstimmeneinbruch der Union auf der einen und das relative Wiedererstarken der SPD auf der anderen Seite. Beides könnte dazu führen, dass es diesmal so viele Überhangmandate wie nie zuvor gibt. Besonders die CSU könnte zum Problem werden, da sie als Regionalpartei keine weiteren Landeslisten hat, mit denen ihre Überhänge verrechnet werden könnten.
Auf der Basis von Umfragetrends hat die Bertelsmann Stiftung mehrere Szenarien durchgespielt, wie groß der kommende Bundestag sein könnte. Demnach sei auch ein „XXL-Bundestag“ mit deutlich mehr als 900 Abgeordneten möglich. Selbst einen neuen Bundestag mit mehr als 1.000 Parlamentarier:innen will Robert Vehrkamp, Wahlrechtsexperte bei der Bertelsmann Stiftung, nicht ausschließen.
Wahrscheinlich ist das allerdings nicht. Die Internetseite mandatsrechner.de, die die aktuellen Umfrageergebnisse der Meinungsforschungsinstitute mit Wahlkreisprognosen kombiniert, kommt derzeit auf eine Spanne zwischen 822 Sitzen (GMS) und 872 Sitzen (Kantar/Emnid). Allerdings gilt in fast der Hälfte der Wahlkreise das Rennen um das Direktmandat noch als völlig offen. Und beim Zweitstimmenergebnis soll es mitunter ohnehin vorkommen, dass die Wählerinnen und Wähler der Demoskopie ein Schnippchen schlagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Ost-Preise nur für Wessis
Nur zu Besuch