heute in bremen: „Es gab nur zehn Exemplare, von Hand zu Hand weitergegeben“
Philipp Venghaus
Jahrgang 1982, ist Kultur- und Literaturwissenschaftler und arbeitet als Ausstellungskurator in Leipzig.
Interview Liz Mathy
taz: Herr Venghaus, was hat die Geschichte von einigen Frauen, die sich 1979 in einer Leningrader Küche trafen, mit der Ausstellung zu tun?
Philipp Venghaus: 1979 gab es die Initiative einer Frau, von Leningrad aus eine eigene Zeitung von Frauen für Frauen herauszugeben, der sich Gleichgesinnte anschlossen. Sie kannten sich aus publizistischen Kreisen im Untergrund, aber fühlten sich in ihrer feministischen Kritik an den Auswirkungen der Missstände in der Sowjetunion auf die Lebensumstände der Frauen auch dort nicht gehört. Wir haben diese, damals illegalen, Publikationen gelesen und uns gefragt, wie wir sie Menschen zugänglich machen können. Weil diese Erfahrungen und Geschichten so plastisch sind, haben wir die Form der Ausstellung gewählt. Sie zeigt Texte von damals, Objekte und Ausschnitte der vielen Zeitzeug:inneninterviews, die wir geführt haben.
Welche Themen haben die Frauen in der Zeitung bewegt?
Das waren Fragen von Kinderbetreuung, die Wohnungsfrage, die Frage der Geburt, der Abtreibung oder Arbeitsteilung in der Familie. Dazu kam etwas später die Frage der Einziehung der Söhne im Afghanistankrieg. Das Themenfeld hat sich auch auf Prostitution, Obdachlosigkeit und Gewalterfahrungen ausgeweitet.
Wie funktionierte die Verbreitung und welche Gefahren brachte sie mit sich?
Es waren klassische Publikationen des Samisdat, also des Selbstverlages im Untergrund. Das heißt, die Frauen haben alles selbst gemacht, vom Verfassen bis zum Verteilen. Von der Publikation „Die Frau und Russland“ gab es – was zunächst vielleicht unbedeutsam klingt – wohl nur zehn Exemplare, die aber von Hand zu Hand weitergegeben wurden. Sie wurden schließlich, nachdem sie übers französische Konsulat nach Paris geschmuggelt worden waren, in linken, kommunistischen Kreisen im Westen verbreitet. Über Radiosender kamen die Inhalte dann wieder in die Sowjetunion zurück. Die Berichte der Frauen stellten die Selbstdarstellung des Landes infrage und so wurden sie einen Tag vor der Olympiade in Moskau im Jahr 1980 ausgewiesen.
Die Zeitschriften wurden von Feministinnen aus dem Westen mit großem Interesse rezipiert. Woran lag das?
Ausstellung „Leningradski feminism 1979“ zur Leningrader Frauenbewegung im Haus der Wissenschaft, Eröffnung um 17 Uhr
Die linken Frauen im Westen waren überrascht über die Defizite, die trotz propagierter Gleichheit da waren, erzählte uns eine Zeitzeugin. So war Abtreibung zwar legal, aber hatte in ihrer Durchführung den Charakter einer Folter. In Verbindung mit dem Fehlen von Verhütungsmitteln konnte das geradezu als Strafe verstanden werden.
In welchem Verhältnis stehen die feministische Kritik und das sowjetische Frauenbild einer gleichberechtigten Genossin?
Die Frauen lehnten das sowjetische Modell von Gleichheit ab. Das Modell bedeutete in der Praxis, dass sie auf dem Arbeitsmarkt zwar gleichberechtigt, aber gleichzeitig für die Familie zuständig waren, was zu einer extremen Doppelbelastung führte. Diese wurde verschärft durch die angespannte Wohnungs- und auch die schlechte Versorgungslage. Zudem ging diese Gleichheit philosophisch von einer männlichen Norm aus, wodurch Themen, die sie als Frauen betrafen wie Sexualität, Verhütung oder Geburt, herausfielen. Darin fühlten sie sich von einem internationalistischen Gleichheitsfeminismus nicht verstanden.
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