20. Jahrestag von 9/11: Die Gesichter des 11. September
Nach den Anschlägen hingen überall in New York Zettel mit Vermissten. Wer sind die Angehörigen dahinter? Eine Spurensuche 20 Jahre danach.
I n den Tagen danach waren sie überall: Zettel mit Fotos von lächelnden Menschen, von glücklichen Menschen. Von Frauen in eleganten Abendkleidern, mit Kindern auf dem Schoß oder beim Anschneiden einer Torte. Von Männern, die in kurzen Hosen am Strand saßen oder auf einer Party Freunde im Arm hielten. „Missing Person Poster“ hießen die Zettel. Sie klebten in U-Bahn-Stationen und den Fenstern von Restaurants, an Laternenpfählen, Bushaltestellen und den Mauern von Krankenhäusern.
Je näher man Ground Zero kam, dem Ort, an dem das World Trade Center gestanden hatte, desto größer waren die Flächen, auf denen die Poster nebeneinander hingen, desto mehr prägten sie das Straßenbild. Zu jedem Bild gab es ein paar Informationen, oft steckbriefartig knapp: die Namen der Vermissten, Nordturm oder Südturm, das Stockwerk und die Firmen, für die sie gearbeitet hatten, Cantor Fitzgerald, Aon, Forte Food Service, Windows of the World. Dazu Telefonnummern der Angehörigen.
Am 11. September 2001 steuerten Terroristen um 8.45 Uhr das erste Flugzeug ungefähr auf Höhe der 96. Etage in den Nordturm des World Trade Centers. Die Explosion und die Trümmer der Boeing zerstörten neben den Aufzugsschächten auch alle drei Treppenhäuser für die Notevakuierung. Die Menschen in den darüberliegenden Stockwerken hatten keine Chance mehr zu entkommen. Die zweite Maschine traf den Südturm um 9.03 Uhr in einem schrägeren Winkel auf Höhe der 81. Etage. Eines der drei Treppenhäuser blieb dort zunächst intakt, weshalb sich aus dem Südturm einige Menschen oberhalb der Einschlagstelle retten konnten.
Was passierte mit den Menschen von den Plakaten?
Das wusste in den Tagen danach aber noch niemand so genau: Wenn man auf die Vermisstenzettel blickte, versuchte man unwillkürlich, die Stockwerkangaben in Überlebenschancen umzurechnen. Vielleicht hatte der Mann mit dem blauen Halstuch und dem Cowboyhut es doch noch aus dem 99. Stock des Nordturms geschafft? Oder die Frau mit dem großen Blumenstrauß? Je mehr Tage vergingen, desto klarer wurde: Man schaute in die Gesichter der Toten.
Ich verbrachte damals viel Zeit vor diesen Zetteln, las die knappen Infos wieder und wieder, prägte mir einzelne Gesichter ein, machte Fotos von den plakatierten Wänden und Bushaltestellen. Der 11. September, dieser Dienstag mit seinem unwirklich blauen Himmel, war zu groß gewesen, um ihn sofort begreifen zu können. Hier vor den Missing-Person-Postern versuchte ich zu verstehen, was er wirklich bedeutete.
Im September 2001 war ich in Manhattan, ich war 25 und machte gerade ein Praktikum im New Yorker Büro der Deutschen Presse-Agentur. Nach dem Einschlag der zweiten Maschine, als klar war, dass es sich um einen Anschlag handeln musste, lief ich eine der endlos langen Avenues hinunter, weil keine U-Bahnen mehr fuhren. Von meinem Wohnheim in der 88. Straße wollte ich ins dpa-Büro, das im UN-Hochhaus an der 42. Straße lag.
Als ich dort ankam, waren die hohen Gebäude aus Sicherheitsgründen bereits geräumt. So sah ich in einer Bar in Midtown auf einer Leinwand das erste Mal, woher die weißlich-sandfarbene Wand stammte, die ich den ganzen Vormittag über am Horizont der Avenue zwischen den Häuserschluchten gesehen hatte. Es war die Staubwolke vom Zusammenbruch der Türme.
Ich erinnere mich an die Fassungslosigkeit in den Gesichtern. An eine junge Frau auf einem Barhocker, die hemmungslos weinte. An den Barkeeper, der mir eine Cola ausgab. Und an das abgründige Gefühl, dass nur ein paar Kilometer von hier gerade Tausende Menschen gestorben sein mussten.
2.753 Menschen kamen an diesem Tag in New York durch den Anschlag ums Leben. Nur 18 wurden in den folgenden Tagen noch lebend geborgen.
Die Fotos, die ich damals von den Missing-Person-Postern gemacht habe, liegen heute mit anderen Bildern, Briefen und alten Musikkassetten in einer Holzkiste in meinem Wohnzimmer. Immer wieder mal habe ich sie seitdem hervorgeholt – die Gesichter auf den Zetteln schienen mir mehr über die Anschläge des 11. September zu erzählen als die immer gleichen Fernsehbilder, die an jedem Jahrestag gezeigt wurden.
Wenn ich in diese Gesichter blickte, fragte ich mich, wer die Menschen gewesen waren, aber auch, wie das Leben derjenigen weitergegangen war, die damals ihre Telefonnummern auf die Zettel geschrieben hatten, wie sie mit dem Verlust und 9/11 zu leben gelernt hatten. Für diesen Text habe ich versucht, mit einigen von ihnen zu sprechen.
Auf vielen Missing-Person-Postern stehen nur Telefonnummern, manchmal die Vornamen der Angehörigen, selten die vollen Namen. Ich suche zu den Zetteln die Nachrufe der New York Times heraus. Jedem 9/11-Toten wurde in der Zeitung in kurzen Texten gedacht, in denen man Namen von Angehörigen findet. Außerdem gibt es im Netz Nachrufseiten wie legacy.com, auch dort finden sich Namen möglicher Gesprächspartner.
Die meisten Anfragen führen ins Leere. Die Telefonnummern, die sich online zu den Namen recherchieren lassen, sind alle veraltet. Angehörige, die ich über soziale Netzwerke oder per E-Mail anschreibe, melden sich nicht zurück oder antworten knapp, sie hätten keine Zeit.
Giovanna „Gennie“ Gambale, 27 Jahre alt
Dann antwortet mir die Schwester von Giovanna Gambale. Sie würde gern mit mir sprechen, sie möchte, dass man sich an ihre Schwester erinnert.
Das Missing-Person-Poster von Giovanna „Gennie“ Gambale ist eines der bekanntesten. Eine junge Frau, 27 Jahre alt, mit einem breiten Lächeln und leuchtend rotem Lippenstift vor schwarzem Hintergrund. Bei den Informationen, wo sie sich zuletzt aufgehalten hatte, hat jemand per Hand Korrekturen eingetragen: Der 102. Stock und der Südturm sind durchgestrichen, es war der 105. Stock des Nordturms. Im Netz gibt es Blogtexte und Kommentare, in denen Menschen Jahre später schreiben, dass sie sich an das Bild erinnern, wenn sie an den September 2001 denken.
„Manchmal passiert es heute noch, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde denke, ich muss unbedingt Gennie anrufen und ihr etwas erzählen“, sagt Antonia Gambale Landgraf in unserem Videogespräch. „Aber diese Momente werden immer seltener.“
Gambale Landgraf lebt heute mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in Westport, Connecticut, einer Kleinstadt an der Atlantikküste. Gennie Gambale war ihre zwei Jahre ältere Schwester. Sie habe sich immer um sie und ihren jüngeren Bruder gekümmert. „Sie war ein bisschen bossy, aber auf eine nette Art, so wie eine Glucke.“ Zusammen sind sie in Carroll Gardens aufgewachsen, einem von italienischen Einwanderern geprägten Viertel Brooklyns. Die Twin Towers auf der anderen Seite des Flusses waren ein vertrauter Anblick.
Am 11. September 2001 arbeitet Antonia Gambale für die Deutsche Bank im World Trade Center 4, einem neunstöckigen Gebäude neben den beiden Türmen. Sie ist gerade im Büro angekommen, als sie einen Knall hört. Die Lampen flackern, kleinere Trümmerteile fallen am Fenster vorbei. Ihre Kollegen und sie entscheiden, das Büro sofort zu verlassen. Unten vor dem Haus sieht sie das Loch im Nordturm. Sie nimmt an, dass es ein Unfall war, dass eine der kleinen Cessnas, in denen Touristen gern Manhattan umkreisen, in den Turm gekracht ist.
Sie läuft mit ihren Kollegen von dem brennenden Turm weg. Auf dem Weg fällt ihr ein: Meine Schwester ist da oben. Giovanna Gambale arbeitet für Cantor Fitzgerald, eine Finanzfirma, die fünf Stockwerke an der Spitze des Nordturms gemietet hat. Weil das Mobilfunknetz zusammengebrochen ist, ruft Antonia Gambale ihren Vater aus einer Pizzeria an. Es gibt keine Nachricht von Gennie.
Ein Kollege setzt Antonia Gambale in ein Taxi, das sie nach Hause bringen soll. Als es über die Brooklyn Bridge fährt, hört sie die Menschen, die über die Brücke laufen, aufschreien. Im Taxi läuft Radio, der Moderator sagt, der Südturm sei gerade zusammengestürzt. „Ich konnte mich nicht umdrehen, ich wollte das nicht sehen“, erzählt Gambale Landgraf.
In den Tagen danach kursierten viele Gerüchte
Die Missing-Person-Poster hätten sie noch am selben Abend gemacht. So etwa 1.000 Stück. „Es war keine reine Realitätsverweigerung. Wir dachten, es gäbe eine kleine Chance.“ In den Tagen danach kursierten viele Gerüchte, die Angehörige hoffen ließen. Schwerverbrannte seien nach New Jersey verlegt oder in eine Spezialklinik nach Kanada ausgeflogen worden. Eine Cousine Gambales war in einem Krankenhaus in der Nähe der eingestürzten Türme gewesen. Gennie sei schwer verbrannt eingeliefert worden, sagte ihr dort jemand. Als nach Stunden die Listen der Aufgenommenen kamen, war ihr Name nicht darauf.
In Wirklichkeit waren die Krankenhäuser in New York nicht voll ausgelastet. Es gab nur wenige Schwerverletzte. Wer den Türmen rechtzeitig entkommen war, blieb körperlich oft unversehrt.
Etwa zwei Tage habe die Familie noch gehofft, erzählt Antonia Gambale Landgraf, sich an Gedanken geklammert wie jenen, dass Gennie gerade einen Aufzug nach unten genommen haben könnte, um eine Pause auf einer niedrigeren Etage zu machen. Dann erklärte ein Psychiater ihrem Vater, dass definitiv niemand in den Büroräumen von Cantor Fitzgerald überlebt hatte.
Auch wenn die Vermisstenplakate nicht die Informationen brachten, die sie sich erhofft hätten, hätten sie doch etwas Gutes gehabt, sagt Antonia Gambale Landgraf. Fremde Menschen riefen an und sagten, wie sehr sie Anteil nehmen würden, dass sie für ihre Familie beten würden. „Wir sind keine Familie, die sich zurückzieht. Bei uns war die Tür immer offen. Viele Freunde und Bekannte kamen vorbei, dazu die Anrufe – das alles fühlte sich nicht aufdringlich an, sondern unterstützend.“
Von ihrer Kirchengemeinde wurde am zweiten Abend nach dem Anschlag eine Andacht vor dem Haus der Gambales abgehalten. Antonia Gambale rechnete mit ein paar alten Frauen, die einen Rosenkranz beten. Als sie vor die Tür trat, hatten sich in der Straße 300 Menschen versammelt. Während sie im Videogespräch davon erzählt, wischt sie sich ein paarmal die Augenwinkel trocken.
Etwa zwei Wochen nach den Anschlägen fand eine Polizistin im Schutt des World Trade Centers Gennie Gambales rotes Lederportemonnaie. Es hatte Rußspuren, an einer Ecke war es angebrannt. „Es hatte diesen starken Brandgeruch von Ground Zero. Als es im Erdgeschoss lag, roch unser ganzes Haus danach“, sagt Gambale Landgraf. Ihr Vater gab die Geldscheine darin einem Obdachlosen. Später spendeten sie das Portemonnaie mit Einkaufsgutscheinen, Gennies Visitenkarte und ihrem Bibliotheksausweis dem 9/11-Museum, das heute Teil der Gedenkstätte am Ground Zero ist.
Die Toten des 11. September werden in der amerikanischen Öffentlichkeit mit ihrem überschießenden Pathos oft als Helden bezeichnet, alle, nicht nur die Feuerwehrleute. Sie wären für die Freiheit gestorben, heißt es dann. „Damit kann ich nichts anfangen“, sagt Gambale Landgraf. „Meine Schwester ging an dem Morgen zur Arbeit wie jeder andere auch. Dann wurde sie ermordet.“
Antonia Gambale Landgraf
Im Mai 2002, Antonia Gambale war gerade allein im Haus der Familie, klopften zwei Polizisten. Die Überreste von Giovanna Gambale waren eindeutig identifiziert worden. „Es hat mich umgehauen, obwohl es natürlich keine Überraschung mehr war.“ Ende September hatten 3.000 Menschen eine Gedenkveranstaltung für Gennie besucht, jetzt entschied sich die Familie für eine sehr kleine Beerdigung. Sie hätten das gebraucht, um in Ruhe abschließen zu können, sagt Gambale Landgraf.
Die Anschläge setzten eine Kette von Ereignissen in Gang, die Kriege in Afghanistan und dem Irak, die Tötung Osama bin Ladens, auch der Fall von Kabul im August dieses Jahres gehört in die Reihe. „Es ist schwierig, das getrennt voneinander zu sehen“, sagt Gambale Landgraf. Die Jagd auf Bin Laden sei gerechtfertigt gewesen, auch bei Afghanistan habe sie am Anfang gedacht, dass es richtig sei, den Terror dort zu bekämpfen, nur habe es sich zu einer unkontrollierbaren Lawine entwickelt. „Ich will nicht, dass ein Mord zu einem anderen führt, dass meine Schwester benutzt wird, um zivile Tote in anderen Ländern zu rechtfertigen.“
Die Familie geht nicht zu den öffentlichen Gedenkveranstaltungen, bei denen jedes Jahr die Listen der Opfer verlesen werden. Sie würden im Stillen gedenken. „Der Schmerz wird mit den Jahren nicht schwächer“, sagt Antonia Gambale Landgraf. „Aber man lernt, mit ihm zu leben.“
Wenn man die Fotos der plakatierten Wände genauer anschaut, merkt man, wie unterschiedlich die Zettel sind. Manche sind mit Hand geschrieben, teils nur schwer zu entziffern. Farbausdrucke und rote Überschriften bekommen mehr Aufmerksamkeit als krisselige Schwarzweißbilder.
Und genauso ist es 20 Jahre danach leichter, Kontakte zu Angehörigen zu bekommen, die schon einmal mit Medien gesprochen haben. Meist sind es Angehörige von Menschen, die gut bezahlte Jobs in den Türmen hatten. Die Spuren der Sandwichverkäufer und Fensterputzer in den oberen Etagen verlieren sich schnell, für sie finden sich im Netz keine eigenen Erinnerungsseiten.
Adam Arias, 37 Jahre alt
Bei der Suche nach den Menschen hinter den Vermisstenpostern lerne ich auch Valerie Lucznikowska kennen. Sie hat ihren Neffen Adam Arias im Südturm verloren – für das Poster, mit dem sie damals nach ihm suchte, hat sie in den Jahren danach eine neue Funktion gefunden: Sie hat ein politisches Plakat daraus gemacht.
Den Kontakt zu ihr bekomme ich über die Organisation „September Eleventh Families for Peaceful Tomorrows“. In ihr haben sich Angehörige von Opfern zusammengeschlossen, die ab Februar 2002 gegen den Kriegskurs der US-Regierung protestierten.
Adam Arias sei ihr Lieblingsneffe gewesen, erzählt Valerie Lucznikowska zu Beginn unseres Videogesprächs, sie selbst habe keine Kinder. Sie ist 82 Jahre alt und lebt seit ein paar Jahren in dem Städtchen Warwick, 90 Kilometer von New York entfernt. Eigentlich sei sie aber eine „in der Wolle gefärbte New Yorkerin“.
Lucznikowska kommt aus einer polnischen Familie, ist in armen Verhältnissen auf der Lower East Side aufgewachsen. Als Erste in ihrer Familie ging sie aufs College, lebte im Ausland, studierte eine Zeitlang in London. Der Aufstieg habe sie mit ihrem Neffen verbunden. Er hatte sich nur mit einem Highschool-Abschluss zur Position des Vizepräsidenten einer Brokerfirma hochgearbeitet. „Adam sollte gerade für seine Firma eine Zeit lang nach London gehen. Ich wollte mitfliegen und ihm ein paar Tage die Stadt zeigen“, erzählt Lucznikowska.
Politisch hätten sie sehr verschiedene Ansichten gehabt, aber das sei zwischen ihnen kein Problem gewesen. Ihr Neffe war ein Anhänger von Ayn Rand, einer Vordenkerin des Libertarismus, die einen völlig ungezähmten Kapitalismus forderte. Sie sei dagegen eine Bernie-Sanders-Demokratin, sagt Lucznikowska. „Manche nennen mich eine Sozialistin. Vor dem Wort habe ich aber keine Angst.“
Am 11. September 2001 ist sie die Einzige ihrer Familie, die in Manhattan lebt. Adam Arias wohnt mit seiner Frau auf der Nachbarinsel Staten Island, pendelt jeden Tag mit der Fähre, arbeitet im 84. Stock des Südturms. Weil nach dem Anschlag das Telefonnetz zusammengebrochen ist und keine regulären Fähren mehr fahren, erwartet Lucznikowska, dass er zu ihrem Apartment kommt, das vier Kilometer von den Twin Towers entfernt liegt. Es wird Nachmittag, sie wird immer unruhiger. Schließlich geht sie zu einer Vermisstenstelle, um ihn zu melden.
Zwei Brüder von Adam Arias kommen abends in die Stadt. Zu dritt machen sie Plakate mit einem Bild von Adam, auf dem er lächelt, Blitzlicht spiegelt sich in seinen Brillengläsern. Sie schreiben ihre Telefonnummern darauf, hängen die Zettel in Downtown auf, in Parks und U-Bahn-Stationen, auch vor einem Schwesternwohnheim, weil sie hoffen, eine Krankenschwester könnte einen Komapatienten in ihm wiedererkennen. „Aber es hat niemand angerufen“, sagt Lucznikowska.
Sie erinnert sich noch an den Moment, in dem sie begriff, dass es keine Hoffnung mehr gab. Am Tag nach den Anschlägen hatten sie wieder und wieder die Vermisstenbüros, Polizeistationen und Krankenhäuser abgeklappert, nach Adam gefragt, seine Fallnummer genannt. Adams Brüder hatten sich abends schon auf der Couch im Wohnzimmer hingelegt, Lucznikowska wollte noch einmal zum Vermisstenbüro.
Nur noch wenige Leute warteten dort spät abends auf neue Nachrichten. „Schließlich kam jemand mit einer neuen Liste rein, ich schoss auf ihn zu, aber auf der Liste standen …“, sie macht im Gespräch eine kurze Pause, „da standen nur einzelne Körperteile“. In dem Moment sei ihr klar geworden, dass ihr Neffe tot sei. Er wurde 37 Jahre alt.
Adam Arias' Leichnam zählte zu den ersten, die man fand, er wurde noch am 11. September geborgen. Es dauerte aber acht Tage, bis man ihn identifiziert hatte und die Familie informierte. Die Wochen danach erinnert Lucznikowska nur als Nebel. „Mit dem Kriegsbeginn in Afghanistan habe ich mich damals nicht beschäftigt, dazu war ich psychisch nicht in der Lage. Ich wusste aber auch überhaupt nichts über das Land.“ Erst mit einigen Monaten Abstand habe sie begonnen, viel dazu zu lesen, ihr politisches Interesse sei dadurch erwacht.
2002 laufen die Vorbereitungen für den Irakkrieg. Obwohl es keine Verbindung zu al-Qaida gibt, wollen auch viele Demokraten im Senat einer Kriegsvollmacht für Präsident Georg W. Bush zustimmen. „Das Mantra war damals: Wir ziehen im Namen derjenigen in den Krieg, die wir an 9/11 verloren haben“, erzählt Lucznikowska. „Und ich habe gesagt: Nicht in seinem Namen.“ Sie hat das Vermisstenplakat ihres Neffen noch in ihrem Computer gespeichert. Sie vergrößert es, zieht es auf eine feste Pappe auf und demonstriert mit anderen Angehörigen vor dem Büro des demokratischen New Yorker Senators Chuck Schumer.
Sie hat oft das Plakat mit dem Foto dabei
Viel Aufmerksamkeit bekommt die kleine Demonstration nicht und Schumer stimmt der Kriegsvollmacht im Oktober 2002 zu. Lucznikowska trifft bei dem Protest aber eine Frau, die sie auf die Initiative „September Eleventh Families for Peaceful Tomorrows“ aufmerksam macht. Sie tritt ihr bei, wird eine der Sprecherinnen und geht in den folgenden Jahren zu unzähligen Antikriegsveranstaltungen, oft hat sie das Plakat mit dem Foto von Adam Arias mit dabei.
„Für mich war es eine unglaubliche Erleichterung, Menschen kennenzulernen, die genau wie ich Rache ablehnten“, erzählt sie. Der Widerstand gegen die Kriege nach 9/11 gibt ihr eine Aufgabe. Und er hilft ihr auch mit dem Schmerz umzugehen. „Jeder Psychiater bestätigt das: Aktiv zu werden hilft ungemein beim Überwinden eines Verlusts.“
Als eine Repräsentantin der 9/11-Familien wird sie 2008 vom Pentagon zu einem Gespräch eingeladen, in dem Pläne für Guantanamo vorgestellt werden. In dem Gefangenenlager inhaftieren die USA seit 2002 Terrorverdächtige, die sie als „ungesetzliche Kombattanten“ bezeichnen. Lucznikowska wird zu einer der härtesten Kritikerinnen des Lagers, besucht Anhörungen dort, prangert Foltermethoden an und wirbt bis heute für die sofortige Schließung: „Guantanamo offenzuhalten, würde bedeuten, dass wir nie Gerechtigkeit bekommen“, weil dort nach Militärregeln prozessiert werde, nicht nach denen einer unabhängigen Justiz, schreibt sie im Juni 2021 in der linken Wochenzeitung The Nation.
Sie spricht 2011 aber auch auf einer Konferenz, auf der eine neue Untersuchung zu World Trade Center 7 (WTC 7) gefordert wird. Das 186 Meter hohe Nebengebäude wurde von herabfallenden Trümmern des Nordturms getroffen, danach brannten stundenlang unkontrolliert mehrere Feuer, was abends zu seinem Einsturz führte. WTC 7 ist ein Einfallstor für eine Vielzahl von Verschwörungstheorien, die davon ausgehen, dass die US-Regierung selbst hinter den Anschlägen stehe. Als Beleg dafür gilt unter anderem, dass die CIA eine Etage im WTC 7 gemietet hatte.
In ihrem Vortrag macht Lucznikowska keine Andeutungen, sie betont nur, dass Menschen nicht dafür niedergemacht werden sollten, Dinge zu hinterfragen. Sie stehe auch heute noch zu ihrem Vortrag, sagt sie auf Nachfrage. Man sollte nicht sofort alles, was die offizielle Darstellung infrage stelle, als Verschwörungstheorie abtun.
Die Familie ihres Neffen lehnt ihr politisches Engagement und ihre Antikriegshaltung ab. Sie stünden weit rechts, hätten ihre Ansichten aber früher immer toleriert, sagt Lucznikowska. Nach Beginn des Irakkriegs ändert sich das, der Kontakt wird immer schwieriger. Ihre Schwester, die Mutter von Adam, die 2015 stirbt, habe jahrelang nicht mehr mit ihr gesprochen.
Und so führt diese Recherche auch mitten hinein in die politischen Konflikte und die Polarisierung, die die USA heute so prägen. Ein Bruder von Adam Arias heißt Don. Er gehört nicht zu jenen Brüdern, die in Manhattan mit Lucznikowska damals nach dem Vermissten suchten.
Don Arias lebt in Florida, er ist 64 Jahre alt, war lange Offizier in der Air Force und dort für Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Im Netz finden sich Ausschnitte aus Interviews, in denen er bei dem rechten Fernsehsender Fox News als 9/11-Angehöriger auftritt und früher Barack Obama, heute Joe Biden heftig kritisiert.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
In unserem Videogespräch erzählt er von dem letzten Telefonat mit seinem Bruder am 11. September 2001. In seinem Büro auf einem Luftwaffenstützpunkt in Florida sieht er im Fernsehen den brennenden Nordturm. Er ruft seinen Bruder in der 84. Etage des Südturms an. „‚Du glaubst nicht, was ich hier sehe. Leute springen da drüben aus dem Fenster‘, sagte Adam zu mir. Ich sagte: ‚Geh nach Hause.‘ Ich weiß nicht, ob er das noch hörte. Es war sehr laut im Hintergrund.“
Wenige Minuten später fliegt die zweite Maschine in den Südturm. 18 Menschen schaffen es von oberhalb der Einschlagstelle zu entkommen. Auch aus dem Büro von Eurobrokers überleben einige. Was genau mit Adam Arias passierte, ist nicht klar. Sein Bruder sagt, Adam sei noch unten am Ausgang des Turms gesehen worden, wollte dann anderen helfen und sei zurückgelaufen. Auf Nachfrage räumt Don Arias aber ein, dass er sich da nicht ganz sicher sei, dass er das nur aus zweiter Hand habe.
Im Gespräch ist er differenzierter als in den Fox-News-Interviews. Als Soldat wolle man für eine Militäraktion einen Anfang und ein Ende, das sei das Problem mit den Kriegen in Afghanistan und Irak gewesen. „Und aus heutiger Sicht muss man sagen, der Irak war ein monumentaler Fehler. Aber damals dachten wir wirklich, sie hätten Massenvernichtungswaffen.“
Afghanistan sei anders, der Abzug katastrophal verlaufen, viel zu überhastet. „Ich habe das Gefühl, dass wir irgendwann wieder dahin zurückkehren werden müssen“, sagt Arias.
Wenn es um Guantanamo und die Menschenrechtsverletzungen der USA geht, sieht er das Land weiter im Krieg – und in dem müsse man den „Gesetzen des Krieges“ folgen und Dinge tun, die in Friedenszeiten nicht nötig seien. Es ist eine wortreiche Umschreibung für: Folter ist in manchen Fällen doch okay.
20 Jahre nach den Anschlägen befinden sich noch 39 Gefangene in Guantanamo. Er könne nicht verstehen, dass die Militärtribunalprozesse nicht vorankommen, sagt Don Arias. „Das liegt auch an linken Gruppen, NGOs und Leuten, die nicht an Gerechtigkeit interessiert sind. Die verzögern das immer weiter.“
Das ist der Moment, in dem das Gespräch unweigerlich auf seine Tante Valerie Lucznikowska kommt. Sie sei schon immer komisch gewesen, habe im Kalten Krieg zu den Russen gehalten, das habe die Familie damals noch toleriert. Heute aber würde sie seinen toten Bruder für ihre politischen Ziele benutzen, das sei für ihn sehr schmerzhaft.
Valerie Lucznikowska sagt, Don Arias würde nur Lügen über sie verbreiten. Der wiederum sagt, wenn seine Tante selbst Kinder großgezogen hätte, nicht nur Katzen, hätte sie auch einen realistischeren Blick auf die Welt. Es ist eine Familienfehde, in der es darum geht, wer das Andenken an Adam Arias vertreten darf. Ihn selbst kann niemand mehr fragen.
Im Oktober 2001 erschien im Magazin der New York Times ein Essay über die Bedeutung der Missing-Person-Poster für die Trauerbewältigung in der Stadt. Jeder New Yorker kenne durch sie mindestens ein Opfer, schrieb der Autor. Aus der Vielzahl der Gesichter hätten sich die meisten eines herausgepickt, das ihnen nun so vertraut sei wie jemand aus der Nachbarschaft, den man seit Jahren ab und zu auf der Straße treffe. Das mache das Ganze fassbarer, es helfe beim Verarbeiten.
Im multikulturellen New York hätte ein gemeinsames Trauerritual auch erst geschaffen werden müssen – eben durch die Plakate der Vermissten, denen man in den Wochen danach langsam beim Verwittern zuschauen konnte. Sie seien genauso vergänglich wie die Blumenkränze auf einem Grab.
Anfang Oktober bin ich damals zurück nach Deutschland geflogen. Ich erinnere mich, wie erleichternd es sich anfühlte, den schwelenden Schutthaufen und den ständigen Brandgeruch in Manhattan hinter sich zu lassen. Die Toten von 9/11 traten in meinem Leben wieder in den Hintergrund. Die Menschen, die damals ihre Telefonnummern auf diese Zettel schrieben, hatten diese Möglichkeit nicht.
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