Kinotipp der Woche: Ambivalentes Werk
Die Brotfabrik gedenkt des Hamburger Schriftstellers Wolfgang Borchert mit einer Lesung und zwei Filmprogrammen.
Immer wieder halb drei. Wieder und wieder fällt nachts um halb drei der Blick der Figuren Wolfgang Borcherts auf die Uhr. Schlaflose Grübelei, Hunger oder die kleinen Geheimnisse des Zusammenlebens treiben sie aus dem Bett in die Küche.
Borcherts Figuren sind auch die des Filmemachers Michael Blume, der sich seit den 1980er Jahren immer wieder in filmischen Miniaturen der literarischen Welt Borcherts zugewandt hat. Wolfgang Borchert starb 1947 an den Folgen einer chronischen Erkrankung, am 20. Mai wäre er 100 Jahre alt geworden.
Die Brotfabrik gedenkt Borchert Mitte September mit einer Lesung und zwei Filmprogrammen. Das eine der Filmprogramme zeigt Wolfgang Liebeneiners Verfilmung seines bis heute bekanntesten Werks, dem Theaterstück „Draußen vor der Tür“, das andere versammelt eine Auswahl von Michael Blumes Kurzfilmen.
Nahaufnahmen und Textfragmente
Ein Mann steht auf einem nächtlichen Bahnsteig. „Die kalten, nackten Bogenlampen waren gnadenlos und machten alles nackt und kläglich.“ Eine Frau spricht ihn auf die Zigaretten an, die sie an ihm entdeckt hat. Im Wortwechsel der beiden bröselt die Abwehrhaltung des Mannes, er geht mit ihr mit, beider Suche nach Nähe scheint erfolgreich.
Doch die Nähe erweist sich als fragil. Michael Blume inszeniert Borcherts Kurzgeschichte „Bleib doch, Giraffe“ atmosphärisch dicht und doch mit großer Leichtigkeit als wortlosen Dialog in Nahaufnahmen der Gesichter der beiden Protagonist_innen. Zwischen die Nahaufnahmen sind Textfragmente aus Borcherts Kurzgeschichte als Zwischentitel gesetzt.
Blumes Film entstand 1984 als unabhängige Produktion in der DDR. Am 26. November 1984 informiert die Kulturabteilung des Rats des Bezirks Magdeburg Blume, dass gegen ihn eine „Ordnungsstrafmaßnahme“ verhängt wird. Für die Realisierung von Filmen ohne Lizenz soll er 300 Mark zahlen.
„Das Brot“ beginnt mit Szenen öffentlicher Brotausgaben in der frühen Nachkriegszeit. Dann wischt eine Frau Krümel vom Küchentisch und stellt sorgfältig Tassen und eine Kanne auf ein Brett. Später, nachts, wacht die Frau von Geräuschen geweckt auf und findet ihren Mann in der Küche, wie er heimlich Brot isst.
Die Nichtigkeit der Dialoge
Die Begegnung in der Küche entfaltet sich im Wechsel zwischen inneren Monologen über den jeweils anderen und die Nichtigkeit der Dialoge, die laut gewechselt werden. An der Küchenwand hängt ein Porträt Wolfgang Borcherts im schwarzen Rahmen.
Auch „Die Küchenuhr“ entstand Mitte der 1980er Jahre noch in der DDR, wurde jedoch Ende der 1990er Jahre von Michael Blume umgearbeitet und durch eine Rahmenhandlung aus Aufnahmen aus New York und vom Beginn der Bombardierung des Iraks durch die USA und Großbritannien 1998 ergänzt.
Soweit der Film Borcherts Kurzgeschichte verfilmt, handelt er von einem Mann, der mitten unter Menschen verloren mit einer kaputten Küchenuhr in der Hand auf einer Bank sitzt und den Menschen neben ihm die Geschichte dieser Uhr erzählt, die alles ist, was ihm nach einem Bombentreffer geblieben ist.
Michael Blumes Borchert-Filme lassen in der Adaption deutlich werden, wie simpel die Situationen von Borcherts Kurzgeschichten sind und manchmal auch, wie filmisch die Szenen schon in der Kurzgeschichte aneinander gefügt sind. Der Güterzug etwa, der die Begegnung auf dem Bahnsteig und die Szene im Bett in „Bleib doch, Giraffe“ trennt, findet sich so bereits bei Borchert.
Wolfgang Liebeneiners Verfilmung des Erfolgsdramas „Draußen vor der Tür“, dessen Uraufführung er an den Hamburger Kammerspielen inszenierte, ist in der Inszenierung deutlich stärker am Theater orientiert.
Jan Philipp Reemtsma entdeckte schon an Borcherts Drama über einen verlorenen Kriegsheimkehrer problematische Züge, die wiederum auch ein Teil der zeitgenössischen Kritik schon festgestellt hatte: „Draußen vor der Tür lieferte die Formeln und Bilder, mit deren Hilfe sich ein deutsches Publikum von seiner Vergangenheit lossagen konnte, ohne die Frage nach Verantwortung und Schuld zu stellen, geschweige denn beantworten zu müssen.“
Gemeinsames Selbstmitleid
Liebeneiner ergänzt das Stück in seinem Film „Liebe 47“ um die Geschichte einer Frau und macht so aus der Verzweiflung von Borcherts Stück die Versöhnung von Kriegs- und Heimatfront im gemeinsamen Selbstmitleid. Der Film spiegelt so das Versagen der deutschen Mehrheitsbevölkerung in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg etwas anderes zu thematisieren als das eigene Leiden.
Die beiden Filmprogramme mit Filmen nach Wolfgang Borchert machen die Ambivalenz seines Werks in der deutschen Nachkriegsliteratur deutlich und zeigen zugleich die Bandbreite der Annäherungen an sein Werk. Die existenziellen Themen, die in seinen Texten anklingen, berühren auch heute noch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!