: Wohin man eingeladen wird
Das internationale literaturfestival berlin ist mit Lesungen und Gesprächsrunden gestartet. Leїla Slimani hielt eine an die Frauen gewandte Eröffnungsrede
Von Julia Hubernagel
Mit Lesungen vor Ort und im Livestream ist am Mittwoch das 21. internationale literaturfestival berlin (ilb) gestartet. Bis zum 18. September treten täglich Autor:innen wie Christian Kracht, Nora Bossong oder Judith Hermann auf, Fachgespräche stehen ebenso auf dem Programm.
Das Festival vereinige in sich verschiedene Schwerpunkte, darunter Bioökonomie und Identitätspolitik, sagt ein erfrischend zerstreut wirkender Ulrich Schreiber, der das Festival leitet. Immer wieder sucht er auf der großen Bühne nach Worten, schenkt sich mehrfach Wasser nach. Gerade die um sich greifende politische Korrektheit, die scheint ihn beschäftigt zu haben. Schreiber erinnert an die Übersetzungsdiskussion um Amanda Gormans Gedich, wo die Ernennung einer weißen Übersetzerin in den Niederlanden für Kritik sorgte. Dass nicht literarische Qualität, sondern die Hautfarbe entscheidend sei, das könne Schreiber nicht nachvollziehen.
Auch Leïla Slimani äußert sich kritisch zum Komplex Identitätspolitik, in dessen Orbit Kampfbegriffe wie „Cancel Culture“ und „Wokeness“ schweben. Selbstzensur sei deprimierend und einer Schriftstellerin unwürdig, sagte die französisch-marokkanische Autorin, die am Mittwochabend die Eröffnungsrede hielt. Gleichzeitig erinnerte sie daran, was auch heutzutage eigentlich unter „Cancel Culture“ zu verstehen sei: „Buddha-Statuen zu sprengen, Aleppo in Schutt und Asche zu legen, Kultur und Religion zu zerstören.“
Slimani hält ihre Rede kämpferisch, gibt sich beides, ernst und feierlich, und konzentriert sich auf die Rolle der Frau, ihre Rolle, einer Frau, die im Heute schreibt. Die 39-Jährige hat vor kurzem einen neuen Roman veröffentlicht, der im Sommer auf Deutsch erschienen ist. „Das Land der Anderen“ erzählt die – wohl Slimanis Großmutter nachempfundene – Geschichte einer Liebe zwischen einem marokkanischen Offizier und einer jungen Französin, die sich am Ende des Zweiten Weltkriegs kennenlernen. Das Paar zieht nach Nordafrika, bekommt zwei Kinder und sieht sich zunehmend zwischen dem Rassismus französischer Kolonialherren und den Traditionen der marokkanischen Dorfbewohner eingekeilt. Bekannt geworden ist Slimani mit dem Roman „Dann schlaf auch du“, in dem sie den Motiven einer Nanny nachspürt, die die ihr anvertrauten Kinder ermordet. Zuvor erzählte sie in „All das zu verlieren“ von einer sexsüchtigen Frau, die ihr Familienglück aufs Spiel setzt. Nicht gerade heitere Stoffe.
Für die Auswahl ihrer Themen habe sie oft Kritik einstecken müssen, sagt Slimani, die in Rabat in einer großbürgerlichen Familie aufwuchs und zum Studium nach Paris zog. Der Kampf für sexuelle Rechte habe keine Priorität, sondern sei eine Schande, habe sie sich etwa anhören müssen. Am meisten verletze es sie jedoch, wenn jemand sage, sie hätte mit all dem zwar recht, solle darüber aber trotzdem lieber schweigen. Slimani ruft die Frauen (nur an sie richtet sie ihre Rede) auf, sich von den Fesseln ihres Geschlechts zu befreien. Auch mal Erwartungen zu enttäuschen.
Erstmal nicht enttäuschend sieht in diesem Jahr das Programm des ilb aus. Mit Wendy Law-One, Ottessa Moshfegh oder Roxanne Gay stehen spannende Autor:innen-Abende an. Kinder- und Jugendbuchlesungen wird es ebenso geben wie politische Talks, bevor das ilb mit einer noch für den 24. September angesetzten Lesung von ausgerechnet Benjamin von Stuckrad-Barre und Martin Suter, die Auszüge aus „Alle sind so ernst geworden“ vortragen werden, schließt. „Der Schriftsteller ist jemand, der dorthin geht, wohin ihn niemand eingeladen hat“, so Leïla Slimani in ihrer Rede. Gut, dass sich der Leser dafür aussuchen darf, wem er folgen will. Genug Auswahl gibt es beim diesjährigen ilb gewiss.
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