Shoah-Gedenken bald ohne Überlebende: Die letzten ZeugInnen
Mit Esther Bejarano ist kürzlich eine der letzten Shoah-Überlebenden in Hamburg gestorben. Das wird die Gedenkkultur weiter verändern.
Denn dass Holocaust-Überlebende weder fähig noch verpflichtet sind, historisch exakt zu berichten, ist der Forschung klar. Es sind Quellen, die man so kritisch betrachten muss wie jede andre. Aber die Erfahrung dieser Menschen ist unanfechtbar, ihr Körper hat das Grauen gespeichert, von dem die TäterInnen nicht wollten, dass es jemand überlebte – aus rassistischer Ideologie und damit es keine Zeugen für die Nachwelt gäbe.
Es gab und gibt sie. Viele haben geschwiegen, einige öffentlich gesprochen, teils nach Jahrzehnten, weil sie merkten, dass es wichtig war. Weil sie hofften, durch den Dialog mit der jüngeren Generation einer Wiederholung vorzubeugen. Wir alle hatten uns daran gewöhnt, darauf vertraut, dass sie im Hintergrund waren und ihre Stimme erhoben, wenn Antisemitismus, Rassismus, Geschichtsrevisionismus aufkamen.
Aber diese Sicherheit bröckelt. Die hochbetagten ZeitzeugInnen sterben, und bald wird niemand mehr da sein, der die KZ bewusst, das heißt als Erwachsener erlebte. Vor wenigen Wochen ist in Hamburg mit Esther Bejarano eine der letzten prominenten Überlebenden gestorben. Ihr letzter Appell an die MitstreiterInnen des von ihr mit initiierten Auschwitz-Komitees: „Macht weiter! Erhebt eure Stimme!“
Der Schutzschirm wird fehlen
Das werden sie tun, aber es ist nicht dasselbe. Denn die meisten entstammen einer anderen Generation und haben nicht die moralische Autorität der Überlebenden. Das werde die Erinnerungskultur schwächen und das gesellschaftspolitische Klima verändern, sagt Jens Christian Wagner, einstiger Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen und heute Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. „Die Überlebenden haben immer eine Art Schutzschirm über die Erinnerungskultur gespannt“, sagt er. Die Befassung mit dem Nationalsozialismus sei die Folie gewesen, vor deren Hintergrund Demokratie und Menschenrechte verhandelt worden seien. „Deshalb war Deutschland bis vor einigen Jahren stärker gegen den weltweit grassierenden Rechtspopulismus gefeit als andere Länder.“
Aber diese Folie werde rissig, und das Bewusstsein für die Relevanz der Erinnerungskultur werde weiter schwinden. „Schon jetzt erlebe ich bei jüngeren Politikern eine,Was geht mich das an'-Haltung. Auch die Angriffe auf die Erinnerungskultur werden sich verstärken“, sagt Wagner. Er nennt die AfD, aber auch rechte Provokateure in SchülerInnengruppen, auf deren Fragen sich die Gedenkstätten-Guides inzwischen gezielt vorbereiten. Er meint auch die „Querdenker“, die Coronaregeln mit der NS-Diktatur vergleichen.
Was also tun ohne die Überlebenden? Wer wird künftig vor SchülerInnen sprechen, wer PolitikerInnen und RassistInnen die Leviten lesen? Ihre Kinder haben nicht dieselbe Autorität. Oft können sie nicht einmal viel über die Erfahrungen der Eltern sagen, die vielfach über das Erlittene schwiegen. Immerhin wissen sie, wie es war, mit Eltern aufzuwachsen, die ihre Traumata unterschwellig an die nächste Generation weitergaben. Und sie können von einer Jugend im immer noch antisemitischen Nachkriegsdeutschland erzählen.
Berichte aus erster Hand aber können die Nachfolgegenerationen nicht ersetzen – auch wenn sich die Überlebenden nicht immer korrekt erinnern. „Die wichtigsten Quellen sind für mich diejenigen, die direkt nach der Befreiung 1945 entstanden“, sagt Wagner. „Das Interview mit Anita Lasker-Walfisch zwei Tage nach der Befreiung des KZ Bergen-Belsen. Oder die ZeugInnenvernehmungen bei den frühen KZ-Prozessen der Alliierten.“
Erzählungen verändern sich
Später hätten sich die Erzählungen verändert. Da habe sich Angelesenes über die Erinnerung gelagert, das kanonisierte Erzählen der „professionellen Zeitzeugen“ im immer gleichen Wortlaut habe eingesetzt.
Linde Apel, Leiterin der Werkstatt der Erinnerung an Hamburgs Forschungsstelle für Zeitgeschichte, findet das verständlich. „Man muss bedenken, dass sich Überlebende immer wieder in eine öffentliche, hochgradig künstliche Situation begeben. Sie treten einer unbekannten Schülergruppe gegenüber, deren Haltung sie nicht kennen“, sagt Apel. „Und diese ZeitzeugInnen wollen, dass man ihnen zuhört. Wenn sie bemerken, welche Geschichten gut funktionieren, wiederholen sie sie eben.“
Genau dieses Zuhörenwollen sei auch direkt nach 1945 das Problem gewesen: „Die deutsche Nachkriegsgesellschaft ist den Überlebenden zunächst mit Misstrauen begegnet. Einerseits hat man sich gefragt, was sie getan haben, um zu überleben. Andererseits hatte man ein schlechtes Gewissen und wollte nichts von der Vergangenheit hören.“ Aber je älter und rarer die ZeitzeugInnen wurden, desto relevanter wurden sie.
Und sie hinterließen Spuren: Tagebücher, Briefe, so genannte „Ego-Dokumente“, wie Elke Gryglewski es nennt. Sie war bis Ende 2020 Co-Chefin der Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ und leitet seither die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen. „Wenn man SchülerInnen aus Dokumenten von Überlebenden vorlesen lässt, kann das große Nähe und Empathie erzeugen.“ Wobei es ein Irrtum sei zu glauben, dass ein einzelner Gedenkstättenbesuch etwas an der Haltung eines rechts gesinnten Jugendlichen ändere. Dafür brauche man pädagogisch ausgefeilte Langzeitprojekte.
Einen eigenwilligen Versuch, Shoah-Überlebende unsterblich zu machen, haben die Shoah Foundation, das Institute for Visual History and Education sowie das Institute for Creative Technologies an der University of Southern California in Los Angeles gewagt. In Zuge Ihres Projekts „New Dimensions in Testimony“ haben sie Überlebende interviewt, gefilmt und 3-D-Hologramme erstellt.
Nun sitzen sie, „live eingeblendet“, auf einem Sessel inmitten einer SchülerInnengruppe und antworten per Spracherkennung auf deren Fragen. Sofern sie zu den konservierten Antworten passen. Es wirkt gespenstisch, diese Menschen quasi aus dem Jenseits sprechen zu hören. Ob die Generation der Digital Natives diese Virtual Reality als authentisch empfindet – es wird sich zeigen.
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