Proteste in Belarus – ein Jahr danach: Der Geist der Revolution lebt
Lukaschenko ist unfreiwillig zum Geburtshelfer der belarussischen politischen Nation geworden. Das erinnert an den Euromaidan in der Ukraine.
Ein schrecklicheres Jahr hat es in der Geschichte des modernen belarussischen Staates noch nie gegeben. Nur 365 Tage hat Diktator Alexander Lukaschenko, der sich bis heute für den belarussischen Präsidenten hält, gebraucht, um sein Land in ein Konzentrationslager mitten in Europa zu verwandeln.
Alle seine Hauptwidersacher hat er hinter Gitter gebracht. Mittlerweile gibt es mehr als 600 politische Gefangene. Tausende von Belaruss*innen waren gezwungen, ihr Land zu verlassen, um den Repressionen zu entkommen.
Lukaschenko schreckte nicht einmal vor staatlichem Terror zurück, als er eine Ryan-Air-Maschine zur Landung in Minsk zwang, weil der oppositionelle Journalist Roman Protassewitsch an Bord war. All dieser Irrsinn zeigt: Der Diktator klammert sich mit aller Gewalt an die Macht, vor deren Verlust er tödliche Angst hat.
Aber Lukaschenko hat nicht verstanden, dass alle seine Bemühungen nur den umgekehrten Effekt haben: Die Belaruss*innen werden ihn nie mehr als Staatsführer anerkennen. Er hat seine Legitimität in den Augen seines Volkes für immer verloren.
Ironie des Schicksals
Das Wichtigste aber, was in Belarus passiert ist, ist die Geburt einer politischen Nation. Sechsundzwanzig Jahre lang hat Lukaschenko systematisch die belarussische Identität zerstört. Aber – Ironie des Schicksals – jetzt hat er selbst sie den Belaruss*innen zurückgegeben.
Das erinnert an die Ereignisse in der Ukraine: Der russische Präsident Wladimir Putin wollte mit dem Krieg gegen das Land die Ukraine unter seine Kontrolle bringen. Doch das Gegenteil geschah: Mental hat die Ukraine die „russische Welt“ jetzt für immer verlassen.
„Uchodi!“, „Hau ab!“ Das war nur einer der Schlachtrufe, die 2020 in vielen belarussischen Städten zu hören waren. Der Adressat: Alexander Lukaschenko, der mit einer dreist gefälschten Präsidentenwahl am 9. August den Bogen endgültig überspannt hatte. Zehntausende Belaruss*innen gingen wochenlang auf die Straße.Ein Jahr danach bilanzieren belarussische Teilnehmer*innen im taz-Panter-Workshop die Ereignisse. Ihnen allen ist gemein, dass ihr Wille, zu Veränderungen beizutragen, ungebrochen ist – allen Rückschlägen zum Trotz. Dieser Text ist erscheinen auf den Sonderseiten der taz-Panter Stiftung „Glaube, Liebe, Hoffnung“.
Gleichzeitig sind die Unterschiede zwischen der belarussischen Revolution und der ukrainischen offensichtlich. Die Ukraine hat mit dem Euromaidan eine Wahl zwischen Russland und der EU getroffen. Belarus kämpft aktuell mit der Vergangenheit um die Zukunft, gegen den Autoritarismus für die Demokratie. Obwohl es auf den Straßen in Belarus keine Proteste mehr gibt, ist der revolutionäre Geist im Land nicht verschwunden. Lukaschenko hat die Schlacht gewonnen, aber den Krieg verloren.
Und er weiß: Vermindert er heute den Grad der Repressionen, dann kommt die Opposition schon morgen an die Macht. Davor hat nicht nur er Angst, sondern der ganze Machtapparat und die belarussische Elite. Denn sie werden sich genau wie Lukaschenko selbst für ihre Verbrechen verantworten müssen, weshalb sie versuchen, sich gegenüber dem Diktator loyal zu zeigen.
Nicht vorbereitet
Jedoch hat nicht nur dies die Revolution in Belarus verhindert. Auch die demokratische Opposition selbst war nicht auf die Revolution vorbereitet. Wenn ein Diktator praktisch dreißig Jahre an der Macht ist, wäre es naiv zu hoffen, ihn durch demokratische Wahlen stürzen zu können.
Und auch der Westen hat zu lange geschwiegen und die Ereignisse in Belarus lediglich beobachtet. So, als ob alles besser wäre als eine neue Konfrontation, die Lukaschenko noch weiter in die Arme des Kremls treiben könnte.
So reibt sich nur Russlands Präsident Wladimir Putin die Hände. Er weiß, dass der Westen sich kaum einer schleichenden Annexion von Belarus widersetzen wird. Zur selben Zeit erkennt Lukaschenko, dass die formale Unabhängigkeit von Belarus der letzte Trumpf ist, den er im Ärmel hat. Aber noch ist dieser Moment nicht gekommen, der belarussische Diktator wird sein eigenes Volk auch weiter unterjochen.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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