Sendungen für junge Wähler:innen: Späti statt Regierungsviertel
Die Sendungen „Ich würde nie …“ und „Kreuzverhör“ wollen Politiker:innen-Interviews für junge Wähler:innen bieten. Funktioniert das?
Lars Klingbeil hat früher 40 Zigaretten am Tag geraucht, Robert Habeck würde nie aus Quallen Salat machen, Dietmar Bartsch ist kein Fan von Craft Beer und Dorothee Bär guckt „moderne Bravo-Lovestorys“ auf Instagram. Anlässlich der Bundestagswahl gibt es jetzt zwei Politiker:innen-Interview-Formate, die speziell junge Menschen ansprechen sollen: „Ich würde nie…“ von Deutschlandfunk Nova und „Kreuzverhör – deine Wahl?“ von Funk.
Gerade scheint es, als würden im deutschen Fernsehen rund um die Uhr Politiker:innen interviewt: das Kanzler:innen-Triell auf RTL, das Kanzler-Duell bei Bild TV, die Sommerinterviews von ARD und ZDF. Das Durchschnittsalter des Publikums dieser Sender liegt zwischen 45 und 62 Jahren. Das wird seine Gründe haben.
In den beiden „jungen“ Formaten unterhalten sich Moderator:innen mit Spitzenpolitiker:innen über die Wahlprogramme ihrer Parteien und versuchen, mit persönlichen Fragen aufzulockern. Was Jüngere von Politik und Unterhaltung erwarten, ist oft kilometerweit von dem entfernt, was den älteren Teil der Bevölkerung anspricht.
Es scheint also eine gute Idee zu sein, das Genre Politiker:innen-Interview an eine jüngere Generation anzupassen. Aber klappt das auch?
Man sitzt am Späti und trinkt Mate
„Ich würde nie…“ und “Kreuzverhör – deine Wahl?“ werden beide da ausgestrahlt, wo man am ehesten junge Menschen findet: Im Internet, auf Youtube. Beide bestehen aus sechs bis sieben Folgen von etwa einer halben Stunde, bei beiden sind die großen Parteien zu Gast.
Bei „Ich würde nie …“ sind es zum Beispiel Robert Habeck von den Grünen, Dietmar Bartsch von der Linken und Junge-Union-Chef Tilman Kuban. Bei „Kreuzverhör – deine Wahl?“ sind es unter anderem Christian Lindner von der FDP, Jens Spahn von der CDU und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz.
Bei „Kreuzverhör – deine Wahl?“ wird die AfD allerdings nicht vertreten sein. Laut ARD habe die Vertreter:in dieser vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuften Partei kurzfristig abgesagt. Stattdessen wurde eine Folge mit dem Namen „Fragen, die wir der AfD gerne gestellt hätten“ ausgestrahlt.
Schon das Setting von „Ich würde nie …“ verspricht etwas anderes als klassische Talk-Formate. Die finden meist in Studios statt, die wie das Innere eines Raumschiffes aussehen, im Nicht-Ort Regierungsviertel oder auf irgendwelchen Grünflächen der Bundesrepublik. Bei „Ich würde nie …“ sitzt man am Späti und trinkt Mate, wie das junge Stadtmenschen so machen. Das suggeriert: Hier geht es locker zu.
Klima, Bildung, Wohnen, Digitales
„Kreuzverhör – deine Wahl?“ will offizieller auftreten. In einem kleinen schwarzen Raum im ARD-Hauptstadtstudio sitzt der jeweilige Politikmensch den zwei Moderator:innen gegenüber, dabei wird ihm grell ins Gesicht geleuchtet. Das Ambiente ruft: Gestehen Sie schon!
„Ich würde nie …“, sechs Folgen, seit 23. 8. bei Youtube. „Kreuzverhör – deine Wahl?“, sieben Folgen, ab 31. 8. täglich 18 Uhr bei Youtube.
Die Interviewstile sind allerdings umgekehrt: Wenn Moderatorin Rahel Klein von „Ich würde nie …“ am Späti sitzt, hat sie kein Problem damit, prominente männliche Gesprächspartner zur Ordnung zu rufen, wenn sie unbefriedigend antworten. Bei „Kreuzverhör – deine Wahl?“ werden die vorbereiteten Fragen artiger abgearbeitet. Manchmal wünscht man sich, es würde mehr eingeschritten, wenn Berufs-Rhetoriker:innen ihre Monologe beginnen.
Beide Formate setzen auf Spaßrunden: „Welche Instagram-Profile haben Sie heute schon gecheckt?“ Und auf wichtige Themen: Klima, Wohnen, Bildung, Digitales. Klein fragt ihre Gäste, wie sich Student:innen die Mieten leisten sollen, wenn sie in Frankfurt oder München studieren. Victoria Reichelt von „Kreuzverhör“ wundert sich, warum die Linke schlechte Umfragewerte hat, obwohl ihre Themen so präsent sind. Das sind relevante Fragen.
Angst sei ein falscher Ratgeber
Die Sendungen brillieren dann, wenn sie entlarven, wie gleichgültig manche Politiker:innen den Sorgen jüngerer Generationen gegenüber sind. An einer Stelle merkt Reichelt an, dass sie große Angst hat, weil Deutschland seine Klimaziele so grandios zu verfehlen scheint. Dorothee Bär von der CSU antwortet: „Angst ist immer ein falscher Ratgeber“.
Ähnlich wie bei anderen Politiker:innen-Talks bleibt leider auch bei den jungen Formaten das Gefühl, nicht schlauer herauszugehen, als man gekommen ist – abgesehen von randomisierten Fakten aus dem Privatleben des Gastes. Aber vielleicht liegt das ja am Ende gar nicht nur an den Talks. Sondern auch an den Politiker:innen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“