Experimental-Spielfilm „Coup“: System erfolgreich ausgehebelt
In „Coup“ erzählt Sven O. Hill eine wahre Hamburger Betrugsgeschichte aus den 1980er-Jahren – als Mischung aus Doku, Zeichentrick und Spielhandlung.
Wenn einer in der Kantine das Gulasch mit dem Löffel isst, statt mit Messer und Gabel, dann wird er wohl dazugehören. Aber das will der namenlos bleibende Held in „Coup“ auch gar nicht: Er ist eigentlich ein Rocker, säuft die Nächte mit seinen Kumpels durch, um am frühen Morgen die Kutte gegen den Anzug auszutauschen – und sich dann den Tag über in der Bank zu langweilen.
Für diesen Protagonisten, gespielt von Daniel Michel, ist das System der Feind. Als er eine Gelegenheit sieht, es auszutricksen, nimmt er sie wahr: Dem kleinen Angestellten gelingt der titelstiftende „Coup“ ausgerechnet mittels Coupons, kleinen Papierschnipseln, die zu Aktienpapieren gehören und als Dividende zu Bargeld gemacht werden können.
Bankbetrug in Höhe von über 2.000.000 DM: Der dem Film zugrunde liegende Vorfall trug sich in den späten 1980er-Jahren in Hamburg zu, wurde aber nie der Öffentlichkeit bekannt. Bis der damals 22 Jahre alte Beteiligte dem Filmemacher Sven O. Hill davon erzählte – in mehreren, jeweils mehrere Stunden dauernden Interview-Sitzungen. Der heute über 50-Jährige kann gut erzählen, in schnodderigem Hamburger Plauderton mit selbstironischen Pointen und punktgenau eingeschobenen Details, etwa der Sache mit dem Löffel und dem Gulasch in der Bank-Kantine.
Hill hat sich als Regisseur und Kameramann von Dokumentarfilmen einen Namen gemacht und war 2006 mit „Kopfende Haßloch“ für den deutschen Kamerapreis nominiert. Er wusste, was für einen Schatz er nun in Gestalt dieser aufgezeichneten Gespräche gefunden hatte. Doch er hatte auch ein Problem: Es gab zu den Ausführungen des einst auf Abwege geratenen Bankangestellten keine Bilder – Hill aber macht Filme, keine Hörspiele.
Millionenbetrug als No-Budget-Film
Für einen konventionellen Spielfilm hatte er nicht genug Geld. Aber vor allem wollte er nicht auf die Stimme der realen Hauptfigur verzichten. Und so entwickelte Hill für diese Geschichte einen ganz eigenen Stil: eine Mischung aus Spielszenen, animierten Sequenzen, Archivfotos und, eben, dem Originalton der Interviews. Mit einem Finanzrahmen von 80.000 Euro ist „Coup“ nicht mal mehr ein Low-, sondern ein No-Budget-Film, aber Hill setzt seinen minimalistischen Stil so stimmig und originell ein, dass mehr vielleicht einfach weniger gewesen wäre.
Bei den Realsfilmszenen konzentriert er sich ganz auf wenige, sparsam ausgestattete Innenräume und ohne viel Aufwand gedrehte Außenaufnahmen. Eine Farbdramaturgie in Sepiatönen und Details wie entsprechend klobige Computer reichen, um ein Gefühl für Ort und Zeit der Handlung zu erzeugen. Hill selbst nennt Aki Kaurismäki mit dessen kargem Stil als Vorbild.
Die Geschichte spielt neben Hamburg auch in Luxemburg – wo der Regisseur selbst ein paar Aufnahmen drehte – und Australien. Dafür musste nun eine Straußenfarm in Norddeutschland herhalten, ferner ein paar in deutschen Hotels, Restaurants und auf einem Tennisplatz gedrehte Sequenzen und wackelige Super-8-Aufnahmen von Postkartenansichten wie der Oper von Sydney.
Wo ein realer Dreh allzu aufwendig geworden wären – etwa bei Rückblenden in die Kindheit, aber auch den Ansichten landender Flugzeuge – wechselt Hill keck zu den von Xaver Böhm grob und skizzenhaft illustrierten Animationen, die immer nur ein paar Sekunden dauern.
Vor allem lebt „Coup“ von Hauptdarsteller Daniel Michel, der perfekt zu Tonfall und Persönlichkeit der Figur passt. Die Wechsel zwischen der Stimme des echten Erzählers und Filmdialogen sind nahtlos, und Michel gelingt es, den 22-jährigen Bänker so eigenwillig, smart und kaltschnäuzig zu geben, dass man ihm so einen Coup zutraut. Ebenso glaubwürdig ist er später, wenn er freiwillig nach Deutschland zurückkehrt – und das ergaunerte Geld zurückgibt.
Nie hinter Gitter gemusst
Denn die Pointe der Geschichte ist, dass der Anzugträger auf Abwegen zwar mitsamt Millionen und einem Rockerkumpel nach Australien abhauen konnte, seine Frau sich dann aber weigerte, mit dem gemeinsamen Kind hinterherzukommen. Und da waren ihm dann Liebe und Familie lieber als ein Leben als Millionär. Der Coupon-Trickster verhandelte erfolgreich mit seinem ehemaligen Arbeitgeber und konnte zurückkommen, ohne auch nur für einen Tag hinter Gitter zu müssen. Angeklagt und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde er – wegen „Diebstahls von Altpapier im Wert von 6 Pfennigen“.
„Coup“. Regie: Sven O. Hill. Mit Daniel Michel, Paula Kalenberg, Tomasz Robak, Rocko Schamoni u. a., Deutschland 2019, 82 Minuten; www.coup-film.de
Etwas Promibonus bekommt „Coup“ durch den Kurzauftritt von Rocko Schamoni in der Rolle eines windigen Anwalts. Hauptdarsteller Michel ist selbst Musiker und mit Schamoni befreundet – und soll ihn einfach gefragt haben.
Am Anfang und am Ende des Films zeigt Hill sogar den realen Protagonisten, allerdings immer so im Schatten, dass der Mann anonym bleibt. Er würde heute alles noch mal so machen, sagt der Mann – aber das Geld behalten. Von einem konventionellen dramaturgischen Bogen mit geläutertem Spitzbuben kann also keine Rede sein. Stattdessen sagt er diesen Satz, den sich wohl kein*e Drehbuchschreiber*in hätte ausdenken – oder trauen? – können: „Einem 22-Jährigen fehlt die sittliche Reife dafür, ein paar Millionen zu klauen.“
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