: Wie singt der Bäcker?
Auf der Suche nach dem Wir von Neukölln: Wie aus der Nachbarschaft ein Kunstprojekt werden kann, erkunden Adrian Schiesser und April Gertler im Projektraum WIRWIR und bei einem Spaziergang
Von Marielle Kreienborg
„In gewisser Weise sind wir hier ja die Gentrifizierer“, schmunzelt Adrian Schiesser, während sein Blick die Fensterfronten des Projektraums WIRWIR in der Stuttgarter Straße in Neukölln scannt, den Schiesser seit Juni zusammen mit seiner Partnerin, der Fotografin und Künstlerin April Gertler, bespielt. Rund zwanzig Menschen hätten in den neunundvierzig Quadratmeter fassenden Räumen gelebt, bis die Wohnung verkauft und von Schiesser und Gertler im Jahr 2018 schließlich in leer stehendem, ziemlich heruntergekommenem Zustand erworben wurden. In einem aufwendigen Renovierungsprozess hat das Paar die Räume seitdem in ein Ladenlokal mit wenigen Wänden verwandelt, das zum Reinschauen einlädt.
WIRWIR, so Schiesser, wolle ausdrücklich nicht „just another art gallery“ sein, in der sich ein elitäres Publikum womöglich selbst beweihräuchere. Man wolle, im Gegenteil, überhaupt kein Kunstraum sein, sondern eine Art multifunktionaler Spielplatz, in dem Menschen verschiedenster Hintergründe – Künstler*innen, Nachbar*innen, Neugierige – sich gegenseitig anregen und austauschen können.
Zu diesem Zweck lädt WIRWIR zu einer Reihe von Events, die ihre Neuköllner Nachbarschaft explizit mit einbeziehen: das Repair-Café zum Beispiel fordert unter dem Slogan „Wieder zu Hause flicken“ dazu auf, kaputte Haushaltsgegenstände in die Stuttgarter Straße zu schaffen, um mit den Künstler*innen Anne Dyhr und Christian Schmidt-Møller, von denen die Idee stammt, an der Reparatur und gegen die vorherrschende Wegschmeißsucht zu werkeln. Gegen Verschwendungsgesten mixt auch „The Failure And Pointlessness Bar“ an: Die niederländische Künstlerin Maureen de Jong schöpft Drinks, die Reste verwerten und den mitunter extravaganten Wünschen ihrer Eigentümer*innen dennoch entsprechen. So äußerte ein Teilnehmer den Wunsch, sein Drink möge sich anfühlen, wie „sich nach hinten fallen lassen und weich landen“. Wie das schmeckt? Nach hochprozentigem chinesischem Schnaps, der sich im Abgang in Pfirsichlikör weich bettet.
Großen Zulauf fand auch das erste „Bread & Butter Bartering“, (die vorwiegend englische Kommunikation, könnte man einwenden, dürfte dem ein oder anderen Mitglied der Nachbarschaft Schwierigkeiten bereiten), in dem eine Scheibe hausgemachten Sauerteigbrots – belegt je nach Wahl mit Butter, selbst gemachtem indonesischem Sambal oder Fisch von „Rogacki“ – gegen Rezepte, Küchenkniffe, Gedichte und sogar eine Öllampe auf Olivenölbasis getauscht worden ist.
Während des Events, berichtet April Gertler, sei eine resolute ältere Dame aus der Nachbarschaft durch die Fensterfront auf den Tauschhandel aufmerksam geworden und habe sich nach anfänglicher Skepsis – „Das ist nichts für mich“ – breitschlagen lassen, ihr Rezept für Rouladen für eine Sauerteigstulle preiszugeben. Anschließend sei sie weitergezogen, zu „ihrer Bar“, und habe die Nachfrage der anderen Gäste, um welche Bar es sich handle, nicht nachvollziehen können: „Na meine Bar eben.“
Miteinander verbunden
Ebensolche Interaktionen wünschen sich April und Adrian im WIRWIR: „Wir wollen, dass gerade auch Menschen den Weg zu uns finden, die sich sonst vielleicht eher nicht auf den Weg zu Kunstausstellungen machen würden.“ Die neue Nachbarschaft unterscheide sich deutlich von der vorangegangen Erfahrung als Teil von tête, einem von Künstler*innen betriebenen space in Prenzlauer Berg. April und Adrian empfinden die neu gewonnene Diversität – hundertsechzig Nationen leben in Neukölln – als großes Glück.
In ihrem performativen Vortrag „Take The Cake: The simit“ bringt April Gertner mit Idil Morsallioglu beim gemeinschaftlichen Backen deshalb nicht bloß die Herkunftsgeschichte rund um den türkischen Sesamring in Erfahrung, sondern befragt gleichzeitig die identitätsstiftende Rolle von Essen.
Die Nachbarschaft zum aktiven Teil der Erfahrung macht auch „Sonic Neukölln“, ein Künstlerspaziergang, auf dem Adrian Schiesser zur Erkundung der Neuköllner Klanglandschaft lädt: „Das Projekt hat mir geholfen, mich selbst zu überwinden und – neu in Neukölln – Läden und Orte zu betreten, in die ich sonst wahrscheinlich nicht reingegangen wäre.“ Schiesser befragte Belegschaften nach ihrem Musikgeschmack und präsentiert die Ergebnisse live auf dem zweistündigen Spaziergang: Der Sound führt vom Multiback in der Rossegerstraße über eine türkische Fleischerei und ein Bestattungsinstitut, eine Altberliner Kneipe, ein arabisches Antiquitätengeschäft, eine syrischen Konditorei und einen israelischen Friseur kreuz und quer über die Sonnenallee.
Vor der Änderungsschneiderei Lück, wo der Syrer Yussef unter dem Namensschild früherer Besitzer*innen seinem Handwerk nachgeht, bildet sich zur Stimme des aus Aleppo stammenden Sängers Shadi Jamil eine Menschentraube unterschiedlichen Ursprungs aus, die an jedem anderen Samstag wenig bis gar nichts miteinander zu tun hätte, an diesem jedoch, über die Musik, singend oder schunkelnd, erinnernd oder entdeckend, neugierig oder nostalgisch, miteinander verbunden ist in ein und demselben Moment.
WIRWIR, Stuttgarter Straße 56
12059 Berlin-Neukölln, http://wirwir.org/
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