: Ausritt auf dem blauen Pferd
In Italien sorgten kritische Psychiater schon in den 70ern für die Schließung von Anstalten
Von Robert Matthies
Mit einem himmelblauen Pappmascheepferd auf Rollen durchbrachen sie am 25. März 1973 das Zauntor des psychiatrischen Krankenhauses im Park San Giovanni in Triest. Vom Hügel herab zogen rund 400 Patient:innen mit Psychiater:innen und Aufseher:innen durch die Straßen ins Viertel San Vito, wo sie mit Musik und Tanz ihre Befreiung feierten. Nicht nur für die bis dahin eingesperrten und vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossenen Menschen war der Ausbruch aus den Anstaltsmauern ein Aufbruch in eine neue Zeit und „Marco Cavallo“, das blaue Pferd, das Symbol eines umfassenden Befreiungsprozesses. Denn fortan durften nicht nur die Kranken hinaus, sondern auch die Stadtgesellschaft hinein in die Anstalt, die noch kurz zuvor geführt wurde wie ein Hochsicherheitstrakt.
1972 hatte der Psychiater Franco Basaglia die Leitung der Anstalt übernommen und dort umgesetzt, was er in den Jahren zuvor in Auseinandersetzung mit den brutalen Zuständen in den „manicomi“, den „Irrenhäusern“, entwickelt hatte. 1961 hatte Basaglia die Anstalt in Gorizia übernommen und war schockiert von den Zuständen dort. Für Basaglia waren die Anstalten, ähnlich wie für den französischen Historiker Michel Foucault oder den kanadischen Soziologen Erving Goffman, Institutionen der Gewalt: Orte, an denen die Gesellschaft die vermeintlich „Irren“ wie eine Gefahr bekämpfte, indem sie sie isolierte, festschnallte, in Zwangsjacken steckte, mit Psychopharmaka ruhigstellte und mit Eisbädern, Elektroschocks und brutalen Lobotomien „behandelte“.
Für Basaglia hatte dieses System in der Praxis offenkundig versagt: Statt den Erkrankten zu helfen und ihnen einen Weg zurück in die Gesellschaft zu ermöglichen, verschlimmere die Etikettierung als „Geisteskranke“ und die Isolierung ihren Zustand. Spätestens in Triest wurde Basaglia klar, dass eine Reform der Institution allein nicht reichen würde. Erfolgreich könne eine Therapie nur sein, wenn man die Anstalten abschafft.
Gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin und Ehefrau Franca Ongaro Basaglia kämpfte er nun für eine „demokratische Psychiatrie“ und eine ambulante Versorgung. Therapien sollten in der Gesellschaft erfolgen und nicht in geschlossenen Anstalten. Die Geisteskrankheit müsse als eine soziale Krankheit anerkannt werden und psychisch erkrankte Menschen in die Gesellschaft reintegriert werden.
Am 13. Mai 1978 hatten die Basaglias und ihre Mitstreiter:innen den Kampf gewonnen. Mit dem Gesetz 180 – dem „Basaglia-Gesetz“ – zur Psychiatriereform wurde beschlossen, schrittweise alle psychiatrischen Krankenhäuser zu schließen und durch dezentrale kommunale Angebote zur Behandlung und Rehabilitation von mental Erkrankten zu ersetzen. In den folgenden Jahren wurden Zehntausende Patient:innen entlassen, die zu ihren Familien zurückkehrten oder in Altersheimen oder eigens geschaffenen betreuten Wohngemeinschaften aufgenommen wurden.
Heute, über 40 Jahre später, gilt das revolutionäre Gesetz, das den Umgang mit psychiatrischen Patient:innen so komplett auf den Kopf gestellt und antipsychiatrische Bewegungen andernorts beflügelt hat, noch immer – und noch immer ist Italien das einzige Land auf der Welt, in dem es keine psychiatrischen Krankenhäuser mehr gibt.
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