Neuer Film von Xavier Dolan: Vakuum des Uneigentlichen
Xavier Dolan erzählt in seinem Film „Matthias & Maxime“ von unterdrückten Sehnsüchten. Gefühle bleiben stumm, doch die Gesichter sprechen.
Zwei junge Männer im Auto an einer Ampel. Sie schweigen. Der Fahrer richtet die Augen starr nach vorne. Der Beifahrer lässt den Blick schweifen und bleibt auf einem Werbeplakat stehen: eine Normfamilie beim Picknick – Mutter, Vater, zwei Kinder. Alle lächeln. Das Gesicht des Beifahrers ist ungerührt, nur die Augenlider schließen sich ein bisschen. Es scheint, als verberge sich hinter ihnen ein Schmerz – und als versuchten sie, ihn nicht nach außen dringen zu lassen.
Der poetischen Eröffnungs-Szene in Xavier Dolans neuem Film „Matthias & Maxime“ folgt eine euphorische. Die beiden Männer aus dem Auto, Matthias (Gabriel D’Almeida Freitas) und Maxime, gespielt von Dolan selbst, sitzen mit alten Schulfreund*innen auf der Terrasse eines Ferienhauses am See. Sie trinken Wein, rauchen Gras, albern herum, reden wunderbar wirres Zeug. Später am Abend sitzen die beiden auf einem Sofa und küssen sich. Nicht einfach so, sondern auf Anweisung von Erika (Camille Felton). Sie hat beide kurz zuvor überredet, in ihrem studentischen Film mitzuspielen.
Die Schlüsselszene in Erikas Kurzfilm ist zugleich die des gesamten Films. Seit dem gespielten, aber echten Kuss, über den die vorwiegend cis-männliche Abendrunde natürlich herzlich gelacht hat, ist alles anders. Matthias, der in Montreal als Anwalt in einer renommierten Kanzlei arbeitet und mit einer Frau verheiratet ist, grübelt nur noch. Er beginnt, an seinem Job zu zweifeln und meidet zunehmend seinen besten Freund Maxime, obwohl der in ein paar Wochen nach Australien auswandern wird.
Maxime leidet nicht nur unter Matthias’ Ignoranz, sondern hat noch andere Probleme. Immer wieder gerät er in heftige Streits mit seiner suchtkranken Mutter (Anne Dorval), um die er sich trotz ihrer aggressiven Zurückweisung liebevoll kümmert.
„Matthias & Maxime“. Regie: Xavier Dolan. Mit Gabriel D’Almeida Freitas, Xavier Dolan u. a. Kanada 2019, 119 Min.
Wunden verbergen
Die Momente, in denen die Mutter ihren Sohn verbal oder körperlich verletzt, sind, wie gewohnt beim frankokanadischen Regisseur – zuletzt in „Mommy“ (Preis der Jury bei den Filmfestspielen in Cannes 2014) oder „Einfach das Ende der Welt“ (Großer Preis in Cannes 2016) – derart authentisch, dass man wegschauen möchte. Als handele es sich um Splatterfilm.
Doch statt Körpern werden hier Seelen geschunden, sei es durch Maximes scheinbar unerwiderte Liebe zur Mutter, durch Matthias’ Verzweiflung über das eigene normierte Leben oder seine Hemmung, darüber mit irgendjemandem zu sprechen. Überhaupt sind beide ständig damit beschäftigt, ihre Wunden zu verbergen. Doch je näher der Tag von Maximes Abschied kommt, desto weniger gelingt das. Vor allem nicht Matthias, als er bei Maximes Abschiedsfeier absichtlich zu spät kommt und ihn vor allen Gästen grundlos beleidigt – und das Close-up auf sein Gesicht abermals verrät, dass gerade etwas in ihm zu implodieren scheint.
Es sind jene Close-ups auf Symbolisches wie das Werbeplakat zu Beginn des Films, vor allem aber auf die Gesichter, die den Film zu einem Drama oder besser: Anti-Drama der unterdrückten Sehnsüchte erheben. Die Protagonisten machen stets das Gegenteil dessen, was ihre Mimik eigentlich andeutet. Ständig geht es um das, was nicht gezeigt, nicht ausgesprochen, nicht unternommen wird.
Aus diesem Vakuum des Uneigentlichen entsteht ein starker Spannungsbogen zwischen innen und außen, zwischen den Figuren und der Welt, die auf sie einwirkt. Eine Welt, in der vor allem Cis-Männer immer noch mit jenem Körperpanzer zu leben scheinen, den Klaus Theweleit in seinem legendären Buch „Männerphantasien“ von 1978 beschreibt.
Angst macht Körperpanzer
Auch wenn der Kulturwissenschaftler sich damit auf die von militärischer Früherziehung getrimmten Körper junger Männer nach dem Ersten Weltkrieg bezog, lässt sich der Begriff auch auf die Gegenwart beziehen, in der derartiges Denken inzwischen unter „toxische Männlichkeit“ firmiert: Körperpanzer als Gebilde, in die nichts ein-, aber aus denen auch nichts herausdringt und die von der Angst vor dem Inneren als auch vor dem Fremden und Unbekannten geprägt sind.
Dem 32-jährigen Autorenfilmer gelingt mit seinem sechsten Spielfilm, der 2019 zu Recht für eine Goldene Palme bei den Filmfestspielen in Cannes nominiert war, trotz weitgehender Abwesenheit von Zärtlichkeit eine Art paraplatonischer Liebesfilm.
„Matthias & Maxime“ zeigt, was mit Gefühlen passiert, wenn sich Ideologien wie die mächtige heteronormative Glückserzählung zwischen Ich und Welt schieben: Sie explodieren nicht, sie implodieren. Im Filmverlauf ist selten die offene, praktizierte Liebe zu sehen, sondern nur ihre Kollateralschäden: die Zweifel an der Zuneigung, die Furcht vor Zurückweisung und Verletzung durch das Gegenüber, der innere Konflikt angesichts ideologischer Normierung und die damit einhergehende Scham. Weisen des Seins, die besonders für all jene in intensivierter Form auftreten, die nicht zum heterosexuellen Default-Modus der Gesellschaft passen.
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