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„Wie beim gemeinsamen Kochen“

Joseph Beuys, Ruangrupa und die Documenta: Ein Gespräch mit den Kuratoren der 15. Ausgabe im Jahr des 100. Geburtages der siebenmaligen Documenta-Teilnehmers

Foto: Jin Panji

Interview Tilman Baumgärtel

In diesem Jahr jährt sich der Geburtstag von Joseph Beuys zum hundertsten Mal. Entsprechend wird des deutschen Künstlers mit einer unüberschaubaren Menge von Veröffentlichungen, Veranstaltungen und Ausstellungen gedacht und sein künstlerisches Erbe neu taxiert. Der Fokus liegt dabei oft genug auf seiner Rezeption in Europa und den USA. Aber Beuys hat Künstler in der ganzen Welt inspiriert. Die taz hat darum Reza Afisina, Iswanto Hartono und Farid Rakun von der indonesischen Künstlergruppe ruangrupa über ihr Verhältnis zu Beuys befragt. Ruangrupa kuratieren die nächste ­documenta.

taz: Wie haben Sie den deutschen Künstler Joseph Beuys kennengelernt?

Iswanto Hartono: Ich habe seine Arbeiten schon als Student in Büchern und Katalogen gesehen. Beuys ist auch in Indonesien bekannt und hat dort Künstler beeinflusst. 2009 hatte ich dann einen Residency in Düsseldorf, und die Kunstsammlung dort hat eine Riesensammlung seiner Arbeiten.

Reza Afisina: Auch ich habe zuerst im Studium von Beuys gehört. Dann hatte ich zur selben Zeit, in der Iswanto in Düsseldorf war, einen Studienaufenthalt in Hildesheim und dabei Gelegenheit, mehr über Beuys zu erfahren. Mich interessieren besonders seine Performances. Die waren für mich schon sehr Anti-Establishment, und das verbindet uns mit seiner Arbeit. Bei uns gibt es im Bereich der Performance-Kunst immer eine Annäherung an die Gesellschaft, und uns interessieren auch ökonomische und soziale Aspekte und verschiedene Kulturen. Und wenn man die Performances von Beuys sieht, dann gibt es da dieselbe Dimension. 

Seit ich hier in Kassel bin, erfahre ich allerdings viel über ihn, was ich nicht wusste, zum Beispiel, dass ein wichtiger Bestandteil seiner Präsentation bei der documenta 6 begleitende Workshops und Vorträge waren, wie ein offener basisdemokratischer Gesprächsraum. Außerdem habe ich „Sonne statt Reagan“ gehört, ein Lied, dass er mit einer Rockgruppe aufgenommen hat, weil er sich in den frühen Achtzigern für die Abrüstung einsetzte …

Dass Beuys bei der documenta nicht nur seine Werke zeigte, sondern auch mit dem Publikum diskutierte, hatte mit seiner Vorstellung der „sozialen Skulptur“ zu tun, bei deren Produktion das Publikum einbezogen werden sollte. Auch bei ruangrupa spielt die Beteiligung der Betrachter eine Rolle. Sie haben dafür den Begriff „lumbung“ – können Sie erklären, was Sie damit meinen?

Reza Afisina: Als wir 2000 ruangrupa gegründet haben, hatten wir mit den großen politischen und sozialen Problemen zu kämpfen, die es in den letzten 20 Jahren in Indonesien gab. 1998 war der langjährige Diktator Suharto zurückgetreten, und in der folgenden Reforma-Ära musste man seine eigenen Überlebensstrategien entwickeln. In Indonesien gibt es, wie in allen sogenannten Entwicklungsländern, nur sehr wenig Unterstützung für die Kunst, und die ersten demokratisch gewählten Regierungen nach 1998 haben die Kunst noch weniger gefördert als das „New Order“-Regime von Suharto. Erst in den letzten fünf bis zehn Jahren hat die Regierung mehr Aufmerksamkeit auf die kulturelle Entwicklung gelegt. Vorher war es ein großer Kampf und man musste sich zusammentun, um zu überleben. „Lumbung“ dient dabei als Wertesystem und Kosmologie, es schreibt sich in die tägliche Praxis der indonesischen Gesellschaft ein, vor allem auf dem Land.

„Lumbung“ bedeutet wörtlich „Reisscheune“…

Farid Rakun: Genau. So nennt man einen Bau, in dem die Ernte eines Dorfes gelagert und nach gemeinsam bestimmten Kriterien verteilt wird. Es ist also eine Möglichkeit, Ressourcen kollektiv zu verwalten. In der Kunstwelt werden viele Ressourcen sehr hierarchisch verteilt, Geld zum Beispiel, oder auch Informationen, Wissen, Raum, Zeit, Netzwerke. Bei der documenta 15 benutzen wir den Ausdruck „lumbung“, um eine Art kollektiven Ressourcenfundus zu bezeichnen, der auf dem Prinzip von Gemeinschaftlichkeit beruht. Im Mittelpunkt von „lumbung“ stehen die Vorstellung und der Aufbau dieser geteilten Ressourcen für neue Nachhaltigkeitsmodelle und kulturelle Praktiken.

Die Leitung der d15

Ruangrupa ist ein 2000 gegründetes Kollektiv aus Künstler:innen, Architekt:innen, Sozial- und Naturwissen-schaftler:innen in Jakarta. Sie haben die Leitung für die nächste documenta 2022 in Kassel, für die sie als ideelles Modell „lumbung“ eingeführt haben: die gemeinsame Reisscheune, in der die Bauern in Indonesien ihre Ernte lagern, ist ein Gemeingut, das auch in schlechten Zeiten die Versorgung aller ihrer Mitglieder sicherstellen soll. Das Gespräch wurde als Videokonferenz mit Reza Afisina und Iswanto Hartono in Kassel und Farid Rakun in Jakarta geführt.

Beuys wollte bei seinen Aktionen die Betrachter in die Arbeit miteinbeziehen. Für die „7.000 Eichen“ gründete sich in Kassel zum Beispiel eine Bürgerinitiative, um Beuys’ Idee umzusetzen, Tausende von Bäumen im Stadtgebiet zu pflanzen. Das Motto lautete übrigens „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“, es ging also schon damals um Nachhaltigkeit. Sehen Sie da Gemeinsamkeiten mit Ihrer Idee von „lumbung“?

Farid Rakun: Diesen direkten, unmittelbaren Vergleich haben wir nie so gemacht. Aber es gibt natürlich eine Menge Ähnlichkeiten. Eine Sache, die für uns sehr wichtig ist, ist die Rolle des Künstlers oder des Autors. Bei ruangrupa spielt Vielstimmigkeit immer eine große Rolle, sie ist Ausgangspunkt und Motor unserer Praxis. Indem wir bei ruangrupa immer als Gruppe auftreten, stellen wir auch die individuelle Autorenschaft in Frage.

Reza Afisina: Ich glaube, dass zu der Zeit, als Beuys die „7.000 Eichen“ in Kassel gemacht hat, diese Arbeit für das Publikum eine große Herausforderung war. Ich habe gelesen, dass es viele Bedenken gab – sogar dass die Bäume den Verkehr behindern oder Unfälle auslösen könnten.

Was Beuys gemacht hat, hatte auch dieses spekulative Element. Er wollte sehen, welche Potenziale sich aus einem Projekt wie „7.000 Eichen“ ergeben würden. Diese Arbeit war nicht nur ein Symbol, sondern sie hat einen richtigen sozialen Prozess ausgelöst, und das mussten die Leute erst mal akzeptieren lernen. Das ist auch ein Teil von „lumbung“. Alle bringen etwas ein. Es ist im Grunde wie beim gemeinsamen Kochen: jeder bringt Zutaten und Rezepte mit, und dann wird in der Küche gemeinsam etwas daraus gemacht.

Beuys hat die Großausstellung documenta für Debatten und Diskurse geöffnet. 1977 hat er mit seiner Free International University (FIU) hundert Tage lang täglich Vorträge und Vorlesungen durchgeführt. Heute sind solche begleitenden Diskussionsveranstaltungen üblich, aber damals war das etwas vollkommen Neues …

Iswanto Hartono: Auch wir werden bei der documenta eine Menge Diskussionen führen. Dafür haben wir in Kassel das ruruHaus eröffnet. Für uns soll es das Wohnzimmer von Kassel werden. Wir als ruangrupa haben Themen, die wir dort gerne besprechen wollen, zum Beispiel die Entwicklung des ländlichen Raums, Ökologie und Ökonomie. Aber das sind nur Anregungen, die von uns kommen. Wir hoffen, dass die Menschen in Kassel sich diesen Ort aneignen. Es ist jetzt auch ihr eigenes Ding, nicht mehr nur unseres.

Joseph Beuys während einer Performance im Palazzo Braschi in Rom 1981 Foto: Leemage/imago

Inzwischen nutzen freilich zum Beispiel Querdenker und Coronaleugner die Möglichkeit sich frei zu äußern, etwa in den sozialen Medien, um sich auf Ziele zu einigen, die alles andere als demokratisch sind. Was dabei herauskommt, hat man kürzlich bei der großen Demonstration in Kassel gesehen, bei der die Polizei einem extremistischen Mob weitgehend hilflos gegenüberstand.

Reza Afisina: Ja, das haben wir in Kassel natürlich mitbekommen. Für mich sind diese Querdenker leider Teil des Ökosystems. Ich finde es falsch, was sie machen. Aber ich frage mich auch, warum es plötzlich so eine Bewegung gibt, die keine rationalen Erklärungen mehr akzeptiert.

Für die Vorbereitung bei der documenta dürfte Corona auch ganz praktische Einschränkungen bedeuten …

Farid Rakun: Ich wäre jetzt wirklich gerne schon in Kassel, aber ich kann im Augenblick nicht nach Deutschland reisen. Außer Iswanto und Reza sind wir ja alle noch in Indonesien. Das gefällt mir gar nicht, weil wir so den Kontext, in dem wir arbeiten, nicht verstehen. Unsere Herangehensweise ist dadurch geprägt, dass wir Leute unter einem Dach zusammenbringen. Und das geht im Augenblick nicht. Ich hoffe, dass 2022 die Bedingungen anders sein werden. Bis dahin müssen wir viel mit digitalen Medien arbeiten. Das ist für Planung dieser documenta sehr wichtig. Darin unterscheidet sich die kommende documenta bereits jetzt von den vorangegangenen Ausgaben.

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