piwik no script img

Wenn die Augen den Magen austricksen

Zwischen Genuss und Kontrollsucht: Viele Fettleibige merken einfach nicht, wenn sie satt oder hungrig sind. Gegessen wird, was auf dem Tisch steht

Kaum eine Diät funktioniert: Ein durchschnittlicher Abspeckversuch dauert fünf bis sechs Monate, bis er frustriert abgebrochen wird. Oft gehen am Anfang ein paar Kilos runter, doch langfristig kommen sogar noch weitere hinzu. Bleibt die Frage, warum es den Betroffenen so schwer fällt, ihr Gewicht zu kontrollieren. Die eine Antwort liegt im Erbgut, denn Menschen können von Geburt an recht unterschiedliche „Futterverwerter“ sein. Als zweite Antwort hat sich in den letzten Jahren jedoch die besondere Psyche der Dicken herausgeschält.

So hören normale Esser mit dem Essen auf, wenn sie satt sind. „Doch dem Übergewichtigen“, so Sozialpsychologe Wolfgang Stroebe von der Universität Utrecht, „gelingt das offenbar nicht.“ Viele Fettleibige merken einfach nicht, wenn sie satt oder hungrig sind. Weil sie sich bei der Nahrungsaufnahme stark von äußeren Reizen beeinflussen lassen, etwa Tageszeit, Essensdüften, Schaufensterauslagen – oder Portionsgrößen und Farben.

Wie mächtig diese Einflussgrößen sind, belegt eine Studie von Ernährungswissenschaftlern der University of Illinois. Sie stellten Testpersonen zwei Schalen hin; in der einen Schale lagerten Schokopillen in sieben Farben, in der anderen gab es zehn Farben zu sehen. Das Ergebnis: Von der bunteren Schale wurden 43 Prozent mehr gegessen. Und es waren vor allem Übergewichtige, die dabei auffielen.

In einem weiteren Test verteilte man Popcorn an Kinobesucher. Wurde es in extragroßen Tüten angeboten, vertilgten sie bis zu 50 Prozent mehr – selbst wenn der Inhalt alt und muffig schmeckte. „Ein deutlicher Hinweis darauf“, so Studienleiterin Barbara Kahn, „wie leicht unsere Augen den Magen austricksen können.“ Die Forscher raten daher Übergewichtigen, einen Bogen um bunte Buffets und Extra-Large-Angebote zu machen und nie mehr als zwei verschiedene Speisen gleichzeitig auf einen Teller zu häufen.

Nichtsdestoweniger wäre es ein Fehler, Übergewichtige generell als unkontrollierte Vielesser zu brandmarken. Oft gehören sie nämlich, wie Stroebe herausgefunden hat, sogar zu den „gezügelten Essern“. Denn dadurch, das sie viele Diäten ausprobiert und auch Kenntnisse über den Kaloriengehalt der Mahlzeiten gesammelt haben, befinden sie sich in dem permanentem Konflikt, dass sie ihr Essen einerseits genießen wollen, andererseits aber auch wissen, dass es sie dick machen könnte.

„Unglücklicherweise ist jedoch der Ablauf des Essens so konstruiert“, so Stroebe, „dass anfangs meist jene Reize dominieren, die das Genussmotiv ansprechen.“ Man hat Appetit, lädt sich den Teller voll, schlemmt, und erst wenn der Teller fast leer ist, meldet sich das schlechte Gewissen. Doch da ja nun ohnehin alle guten Absichten ruiniert sind, siegt die „Egal-Stimmung“ – und am Ende wird sogar noch ein Dessert vertilgt. Es kommt also wieder mal zum kulinarischen Exzess, obwohl der Essende nur zu gut um dessen Schädlichkeit weiß.

Stroebe empfiehlt daher Übergewichtigen, weniger auf den Kaloriengehalt der Nahrung zu achten und dafür den Kalorienverbrauch zu erhöhen: „Man muss ja nicht gleich joggen gehen, es hilft auch schon, das Auto weniger zu benutzen.“ Und: Man sollte beim Nahrungsverzehr völlig frei von Ablenkungen sein. Denn wer beispielsweise beim Essen fernsieht, kann nicht auf die Sättigungssignale seines Körpers achten. JÖRG ZITTLAU

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen