Warum Berlinern so sympathisch ist: „Es steckt scheinbar an“
Torsten Kelling und sein Album mit berlinerischen Songs. Auf „Allet okeh“ gibt’s vertontes Kneipengelaber und ungetrübte Milieubeobachtungen.
taz: Herr Kelling, manche Leute können das Berlinern schon beim Reden nicht ertragen, Sie berlinern beim Singen auf einem ganzen Album. Hatten Sie nie Bedenken, dass es als peinlich empfunden werden könnte?
Torsten Kelling: Nee, eigentlich nich.
Sind Sie berlinernd aufgewachsen?
Nee, ich bin ja eigentlich Eberswalder und Mitte der 1980er erst zum Studium nach Berlin gekommen. Eberswalder Kanaldeutsch war noch’n Zacken schärfer als Berlinerisch.
Ein Beispiel?
Der Berliner kooft ein – der Eberswalder kooft in. Da sind noch paar Diphthongs (Doppellaute aus zwei verschiedenen Vokalen, die als eine Silbe gesprochen werden – Anm.d.R.), die monophthongiert, also lautlich verändert werden.
Der Mensch Torsten Kelling, Künstlername Kelling, ist vor 56 Jahren geboren und in Eberswalde aufgewachsen. In den 1980ern kam er nach Ostberlin und begann an der Humboldt-Universität ein Deutsch-Englisch-Lehrerstudium. Nach vier Semestern brach er ab, widmete sich lieber dem Musikmachen und ging in ein unstetes Berufsleben, unter anderem arbeitete er als Putzkraft, Barkeeper, Theatermaler, Puppenspieler und Tontechniker. Außerdem hat Kelling ein paar Semester Sozialpädagogik studiert und beguckt sich permanent das Sozialverhalten der Berliner, um es in Songs mit berlinerischen Texten zu verpacken.
Die Musik Kelling begann als Schüler in Eberswalde mit der Musik, ab Mitte der 1980er teilt er sich in Prenzlauer Berg die Probenräume mit den Ostunderground-Legenden Feeling B und Freygang. Mitte der 1990er nennt er seine Band „Die unteren 10tausend“, als er später einige Jahre nach Kuba ging, machte er auch dort Musik. 2020 erschien bei Buschfunk sein Album „Allet okeh“ (Mitwirkende Karoline Körbel und Delia Müller, Produzent Lutz Kerschowski). „Berliner Lieder von unten, Schnauze nicht im Schongang, zwischen Waits, Bukowski und bisschen Zille, Heinrich im Heute“, wie ein Rezensent schrieb. (gl)
Sie kennen sich gut aus mit der deutschen Sprache?
Ich habe in den 1980ern an der Humboldt-Uni Deutsch und Englisch studiert, aber nur vier Semester. Als Lehrer habe ich auch nie gearbeitet.
Wann haben Sie als Musiker begonnen?
Schon in Eberswalde an der Penne. Unsere Schulband, mit der wir auch in Kirchen auftraten, hieß Haida Yurok, nach zwei Indianerstämmen. Wir haben Neil Young gespielt und auch eigene Sachen, aber noch nicht in den Texten berlinert oder eberswaldert.
Welches ist Ihr Lieblingswort im Berlinerischen?
Ich habe eher eine Lieblingsphrase. Zu Ostzeiten spielte ich in einer Band und unser Schlagzeuger, der als Steinmetz auf dem Bau arbeitete, hatte schwer berlinert. Der sagte immer: Sei sauer! Dit klingt zwar gar nicht sehr berlinisch, war aber voll Ostberlin. Es war keine Aufforderung, sich zu ärgern, sondern ’ne Entschuldigung, die meinte: Sei nich sauer.
Hatte Ihre damalige Band auch einen berlinerischen Namen?
Nee, die hieß Trojan. Wir waren aber tief drin in der Berliner Szene, haben uns die Probenräume mit Feeling B und Freygang in der Fehrbelliner 7 geteilt.
Haben Sie damals schon berlinerische Songtexte verfasst?
Kaum. Es gibt aber einen Song auf Berlinerisch, den ich für meine Band Die Körper der Einfalt geschrieben habe und der 1990 sogar auf einer EP erschien. Der heißt „Sauba“ und war sozusagen inspiriert durch meinen Job als Reinigungskraft, nachdem ich mein Studium abgebrochen hatte. Für das nächste Album, meine Band hieß inzwischen Die unteren 10tausend, hatte ich noch weitere Songs im Berliner Dialekt geschrieben. Mein Keyboarder Egge Schumann war großer Tom-Waits-Fan und der Meinung, das würde musikalisch gut zusammenpassen: Waits-Songs und berlinerische Texte. So ist das Anfang der 1990er entstanden. Einige Songs sind ja auch auf der neuen CD enthalten.
Etliche haben einen, ich sag mal: Kneipenkontext. Was hat Sie dazu inspiriert, Erlebnisse als Kneipier oder als Kneipenkunde?
Beides. Gerade in den 1990ern, als ich jung war und in Berlin viel ausgegangen bin, habe ich doch etliche Kneipenerfahrungen gemacht. Nicht nur als Kunde, tatsächlich habe ich auch hinterm Tresen gearbeitet, in Prenzlauer Berg, unter anderem im Café Kyril.
Wurde damals mehr berlinert als heute?
Doch, ja. Die nicht berlinernden Milchkaffeetrinker fielen da noch sehr uff. Heute fallen ja die Berliner uff.
Sie haben Berlin auch zeitweise verlassen?
Ab 1997 war ich regelmäßig auf Kuba und habe dort auch mal geheiratet und eine Weile gelebt. Wir wohnten im Stadtteil Buena Vista, wo ich in der Malerszene aktiv war und auf Vernissagen auch hin und wieder Musik machte. Zwischendurch war ich in Berlin als Kulissenmaler für den Friedrichstadtpalast tätig, aber immer nur befristet. Parallel habe ich jedoch immer Musik gemacht und auch für einige Freunde Songs geschrieben. Allerdings habe ich das Berlinern zeitweise gelassen und nur Hochdeutsch geschrieben, weil mein Spanisch den Berliner Dialekt verdrängt hat.
Wieso das Spanisch?
Weil ich erst langsam wieder in Berlin ankam. Als ich aus Kuba zurückkehrte, war ich in Gedanken noch in einer anderen Welt. Um berlinerische Songs zu schreiben, musst du aber gedanklich wieder voll hier sein.
Wie haben Sie das Berlinern der anderen nach Ihrer Rückkehr empfunden, irritierend?
Was zuerst auffiel, war die Stille in der Stadt.
Die Stille?
Ja. Meine kubanische Frau hatte, wenn wir auf dem Hinterhof in Prenzlauer Berg waren, oft gefragt: Wohnt hier überhaupt keiner? Niemand schrie dort rum, was in Kuba ganz anders ist. Da die Leute dort kaum Telefon besaßen, riefen die sich immer was von Haus zu Haus zu, gern über hundert Meter. Deshalb sind die Kubaner übrigens auch alle so heiser. Das Einzige, was du in Berlin draußen hörst, ist Baulärm und Autos.
War das früher so viel anders?
In den 1990ern war es anders, alles im damaligen Berlin war bunt und auch laut. Und vieles hatte so ein bisschen was Raues, Ranziges, Marodes. Die Häuser waren noch nicht alle schick.
Hat sich das Raue früher auch in der Sprache stärker gezeigt als heute?
Ich würde sagen ja. Im Berliner Ostteil klang die Sprache noch sehr ostig. Es gab dort auch noch sehr wenige Migranten. Jetzt ist alles viel stärker vermischt.
Am Berlinern erkannte man nach der Wende leicht den Ostler, weil das Berlinern in Westteil eher verpönt war als prolliger Ausdruck.
In Ostberlin vor der Wende war das Berlinern ganz normal, das haben – jedenfalls im Privatbereich – auch Professoren gemacht. Wir hatten zu Ostzeiten ja quasi eine klassenlose Gesellschaft und die im Westen nicht. Deshalb wollten sich die Leute dort wohl vielmehr abheben von den einfachen Typen aus den Westberliner Eckkneipen, wo ja heute noch ordentlich berlinert wird.
Ihre Songs sind mal Liebeserklärung an Ihre Frau, mal Milieubeobachtung, mal Behördenblues des kleinen Mannes: „Ick sitze stumm und klein und dumm im Amt herum.“ Von lebensbejahendem Berlin-Gefühl ist wenig zu spüren.
Der Song „Allet okeh“ über den Kunden beim Amt stammt ja schon aus den 1990ern. Damals wollte so ein trauriges Zeug nur keiner hören. Zu der Zeit sollte alles toll sein. Über Berlin hieß es nur: Überall wird gebaut und gemacht, die ganze Welt kommt her. Kanzler Kohl hatte außerdem versprochen, allen wird’s besser gehen. Deshalb wollte keiner traurige Lieder über Berlin hören, obwohl es damals von den unteren Zehntausend noch viel mehr gab als heute.
Eher fröhliche Lieder sind generell nicht so Ihr Ding, schon gar nicht auf Berlinerisch?
Ach, kann man so eigentlich nicht sagen. Ich bin ja mit Otto Reutter aufgewachsen. Mein Vater hat jeden Sonntag früh eine Platte mit Reutters Couplets aufgelegt. Ich kannte die Lieder alle auswendig und ich kann die immer noch, glaub’ ick.
Als Jugendlicher haben Sie sich für Couplets interessiert? Etwas ungewöhnlich.
Als Jugendlicher nicht, aber als Kind. Mein Vater hatte auch Schallplatten von Herricht und Preil (Ostkomiker – Anm.d.R.) und vom Münchner Karl Valentin. Als Kind nimmt man solche Sachen ja gerne an.
„Berlin nachts um viere“, ein neuer Song, den es nicht auf dem Album gibt, ist auch kein Gute-Laune-Lied. Darin geht’s um Obdachlose.
Die brauchen ja auch ’ne Stimme.
Kennen Sie sich persönlich mit Obdachlosigkeit aus?
Nicht direkt. Ich bin mal bei meiner Frau rausgeflogen und musste danach wieder bei meiner Mutter einziehen. Damals habe ich versucht, einen Wohnberechtigungsschein zu beantragen. Als ich eine Wohnung suchte, habe ich gemerkt, wie aufgeschmissen man in so einer Situation ist. Ich bin zwar nie auf der Straße gelandet, aber als empathischer Mensch kann ich mich in etwas hineinversetzen. Das ist genauso wie mit dem Amt, auf dem haben wir ja alle mal gesessen. Bei mir reicht das, um mir vorstellen zu können, wie’s ist, wenn’s richtig hart wird.
Warum, glauben Sie, ist gerade jetzt die Zeit für Ihre urigen Berlin-Songs gekommen?
Ehrlich gesagt, weil der Musiker und Produzent Lutz Kerschowski mich vor einiger Zeit gefragt hatte: Warum singst du eigentlich nicht mehr diese berlinerischen Lieder? Lass uns doch einfach mal was machen. Ich habe dann ein paar neue Songs geschrieben, dazu haben wir einige Lieder von früher neu aufgenommen, zum Beispiel „Een son Ding“.
Vertontes Kneipengelaber?
Dit habe ich wirklich so erlebt als Student in einer Eckkneipe. Ich weiß noch, ich wollte nur ein Bier trinken, aber dann hat der Typ am Tisch erzählt und erzählt. Ich wurde nicht schlau draus, aber irgendwann war ich sein bester Kumpel.
Ein Klassiker der Kneipenkultur.
Ja. So was prägt sich einem ein als junger Mensch. Ich habe das quasi wiederentdeckt dank Lutz. Überhaupt hat es mir viel Spaß gemacht, diese berlinernden Songs aufzunehmen.
Sehen Sie insgesamt eine Art Comeback des Berlinerns?
Ich glaube, dass der Zuspruch tatsächlich größer geworden ist. Vielleicht auch, weil das ganze soziale Empfinden anders zu sein scheint als in den 1990ern, nicht nur in Berlin.
Es gibt neuerdings Poster mit berlinerischen Wörtern wie Knorke, Pillepalle und Auwacka. Könnte das Berlinern theoretisch mal so hip werden, dass es Ihnen nicht mehr gefallen würde?
Kommt immer drauf an, was man so redet. Der Inhalt macht’s, nicht bloß die Form.
Sprache ist gerade bei der Jugend im ständigen Wandel. Nach meinem Eindruck scheint es bei jungen Leuten durchaus cool, zum Beispiel in SMS zu berlinern.
Es macht ja auch Spaß. Ich schreibe in Mails selbst gern berlinerisch und oft ist es so, dass mir Personen, mit denen ich noch nicht groß zu tun hatte, anfangs hochdeutsch schreiben. Wenn ich dann berlinerisch antworte, machen die das beim nächsten Mal oft genauso. Es steckt scheinbar an. Ich will jetzt auch nicht übertreiben, aber finde, dass man den Berliner Dialekt ruhig etwas bewahren sollte. Sonst stirbt der doch aus zwischen dem ganzen Schwäbisch, Bayerisch und Türkischdeutsch.
Sind Ihnen Menschen, die berlinern, spontan sympathisch?
Jahrzehnte lang war mir das schnurzpiepe, aber in letzter Zeit freue ich mich zunehmend, dass es Berlinernde noch gibt. Dann fühle ich mich nicht so alleene.
Wir reagieren andere Menschen auf Ihr Berlinern?
Ich bin eh keiner, der so viel schnattert. Beim Kreuzberger Theater Thikwa, wo ich nebenbei eine Coverband mit behinderten Musikern betreue, habe ich eine interessante Beobachtung gemacht: Bei Menschen mit Behinderung kommt Berlinern besser an als Hochdeutsch.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ich glaube, weil es so offen und ehrlich klingt. Wenn man spricht, wie einem die Schnauze gewachsen ist und nicht durch den hochdeutschen Filter wie eine pädagogische Fachkraft, dann nehmen die das sofort an. Generell gibt es natürlich auch Situationen, wo das Hochdeutsch hingehört. Wenn Herr Spahn auf einer Pressekonferenz spricht, ist es sicher besser als im Dialekt. Wenn er einen hat.
Würden Sie es gut finden, wenn führende Berliner Politiker berlinern würden, ein bisschen wenigstens?
Na ja, es gab ja mal eine Berliner Politikern, die konnte gar kein Hochdeutsch: Regine Hildebrandt.
Sie war in den 1990er Sozialministerin in der letzten DDR-Regierung und hat nicht nur schwer berlinert, sondern auch sonst kein Blatt vor den Mund genommen. Passt das gut zusammen: Berlinern und klare Worte? Oder kann man genauso gut Duckmäusern auf Berlinerisch?
Kann man, aber das fällt dann auf. Gerade bei Regine Hildebrandt gehörte das eng zusammen: Berliner Schnauze und deutliche Worte. Hätte die hochdeutsch gesprochen, hätte das vielleicht geklungen wie bei Jens Spahn. Allerdings heißt das nicht, dass, wer heftig berlinert, immer die Wahrheit sagt. Die Leute aus dem Berliner Rotlichtmilieu haben auch auf Berlinerisch ordentlich gelogen.
Faszinieren Sie auch andere Dialekte?
Dialekt kommt immer gut, wenn man es mit guten, authentischen Leuten zu tun hat. Einer wie Karl Valentin zum Beispiel war ein hervorragender Repräsentant des Bayerischen. Ich glaube, Dialekte sind letztlich immer so beliebt wie die, die sie sprechen. Der Berliner gilt ja oft als ungeschliffener Diamant: hart, aber herzlich.
Den Leuten im Ruhrpott wird Ähnlichkeit mit den Berlinern nachgesagt in ihrer direkten Art.
Ja, stimmt. Ist ja dort auch sehr urban und ähnlich hart wie hier. Traditionelle Arbeitergegend. Bei uns hieß es zu Ostberliner Zeiten knuffen, bei denen malochen.
Mundart-Rock ist überregional kommerziell meist nicht wirklich erfolgreich, abgesehen von ein paar Ausnahmen wie BAP oder LaBrassBanda. Hören Sie selbst Musik mit anderen Dialekten?
Eigentlich weniger.
Aber Sie bleiben bei dem Konzept?
Die Realisierung dieser CD hat jetzt fast fünf Jahre gedauert und die neue ist schon fast fertig, auch wieder mit berlinerischen Liedern. Dabei bleibt es. Musikalisch wird sie aber nicht ganz so bedrückend.
Irgendwann dürfte es eine Konzerttour zum Album geben. Geht die dann nur durch Berlin?
Nö. Der Saxofonist unserer Band, Fränkie Krüger, wohnt bei Halle in Sachsen-Anhalt und unser Bassist Mario Noll kommt aus Leipzig. Schon deshalb wollen wir nicht nur auf Berlin beschränkt sein. Wir haben Angebote für Live- Konzerte von überall in der Republik, wohin sich Berliner zurückgezogen haben. Vielleicht aus Heimweh oder weil sie froh sind, nicht der letzte Berliner im Haus zu sein.
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