Kolonialgeschichte im Linden-Museum: Kopflose Buddhas
Das Stuttgarter Linden-Museum arbeitet seine Gründungsgeschichte auf. Dabei stellt sich die Ausstellung am Ende auch selbst zur Diskussion.
Obstnamen sind unverfänglich. Aus der Tanga-Straße wurde die Quittenstraße, aus der Wissmann-Straße die Johannisbeerstraße und aus der Deutsch-Ostafrika-Straße die Aprikosenstraße. Das ist schon länger her. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekamen in Stuttgart zahlreiche während der Kolonialzeit benannte Straßen neue Namen.
Mit dem Booklet der Ausstellung des Linden-Museums „Schwieriges Erbe. Linden-Museum und Württemberg im Kolonialismus“ lässt sich trotz Lockdown das koloniale Stuttgart erkunden, denn eine Vielzahl von Denkmälern und Gedenktafeln, ehemaligen Versammlungsorten und Geschäftsstellen sind auf einer Karte verzeichnet. Die Ausstellung musste leider nach kurzer Öffnungszeit wieder pandemiebedingt geschlossen werden.
Am Anfang des Projekts stand die Feststellung, dass so gut wie keine Literatur zur Entstehung des Linden-Museums verfügbar war. Deshalb gab das Linden-Museum 2018 bei dem Kolonialismus-Forscher Heiko Wegmann, Initiator der Plattform freiburg-postkolonial, eine Studie in Auftrag.
Deren vorläufige Ergebnisse waren so „bedeutsam“, wie es die Direktorin Inés de Castro ausdrückte, dass eine Ausstellung in eigener Sache sich förmlich aufdrängte. Die Inhalte lieferten Wegmann und der Provenienzforscher des Linden-Museums, Markus Himmelsbach.
zum digitalen Begleitprogramm zur Ausstellung gibt es auf www.lindenmuseum.de
Erschlagen von den Textmassen
Wer die Ausstellung betritt, ist zunächst erschlagen von den Textmassen und Schautafeln an den Stellwänden. Doch dauert es nur wenige Minuten, bis der Zeitstrahl, die Diagramme und Karten mehr mitteilen, als ein homogener Text dies könnte. Die Stuttgarter Kolonialbewegung war Teil der Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreichs und ragte tief in die NS-Zeit hinein.
Die Sammlungen des 1911 eröffneten Linden-Museums gehen auf die Sammlungen des 1882 gegründeten Württembergischen Vereins für Handelsgeographie und die Förderung deutscher Interessen im Ausland (WVHGeo) hervor, in deren Trägerschaft sich das Museum bis 1973 befand. Eine Weltkarte mit verschiedenen Größenproportionen lädt ein, mit einem rot oder blau gefärbten Glas das eigene Weltbild neu zu erkunden. Eurozentrismus hat nicht nur eine weltanschauliche Komponente, sondern auch eine geografische.
Es geht um Daten und Fakten, aber auch um einen neuen Blick auf ein vermintes Gelände. Das LindenLAB 5, die mit der Neuausrichtung des Museums befasste Arbeitsgruppe, und die Gestalter Holzer Kobler aus Zürich setzten die angestrebte Multiperspektivität um. Deshalb hängt das Porträt des Namensgebers des Museums, Karl von Linden, nicht unkommentiert an der Wand.
Legitimiert durch die sogenannte Rettungsethnologie
Vielmehr wird im grafisch aufbereiteten Wandtext gefragt, ob der langjährige Vorsitzende der WVHGeo vielleicht nicht nur als ein Förderer der Forschung, sondern auch als sammelwütiger Hehler gesehen werden kann. Er handelte im Sinne der sogenannten „Rettungsethnologie“. Karl von Linden sah sich durch das Bewusstsein legitimiert, dass die Kolonisierung unweigerlich zur Zerstörung der von den Europäern kolonisierten Kulturen führen würde.
Von seinem Schreibtisch aus baute er ein riesiges Netzwerk von Zuträgern auf. Im Dienst der Sache schrieb er bis zu 1.000 Briefe im Jahr. Sein Sammeleifer macht von Linden zu einer ambivalenten Figur, vielleicht auch zu einer Symbolfigur für die kolonialen Verstrickungen der damaligen Elite.
Immer deutlicher wird, wie die „Kolonialbewegung“ um 1900 vielfältige Strukturen in Politik, im Handel und im Militärwesen ausgebildet hat, die wiederum eng mit privaten und gesellschaftlichen Aktivitäten verbunden waren. Die Ludwigsburger Kaffee-Firma Heinrich Franck & Söhne etwa unterstützte das Linden-Museum finanziell und warb auf Sammelbildern für den Kolonialismus, die sie ihren Produkten beilegte.
Ausschneidebögen für ein afrikanisches Dorf oder Dschungel-Kulissen für Kasperle-Theater trugen den Gedanken des Kolonialismus bis in die Kinderzimmer. Kolonialwarenläden gehörten zum alltäglichen Stadtbild. Doch war die Kolonialpolitik schon damals umstritten, was an einer Stelle der Ausstellung angedeutet wird.
Teile der Sozialdemokratie und liberale Kreise kritisierten die brutale Kriegsführung der deutschen Truppen im Ausland. Ausgestellt ist eine entsprechende Karikatur aus der Zeitschrift „Der wahre Jacob“. Ihr Redakteur Karl Schmidt musste sich 1901 wegen Beleidigung des Expeditionskorps vor Gericht verantworten.
Man könnte sich fragen, warum die Aufarbeitung der Geschichte des Linden-Museums eine dermaßen breite Recherche nach sich zog. Oftmals sind es die Sammlungsobjekte selbst, deren Spuren auf kolonialistische Kontexte verweisen. In einer Vitrine ist eine Buddha-Statue ungewöhnlich prominent hervorgehoben. Der Kopf der kleinen Figur war einmal abgebrochen, die Reparatur nur notdürftig ausgeführt.
Carl Waldemar Werthers' Thronbuddha
Dieser Makel machte sie für den Provenienzforscher Markus Himmelsbach zu einem identifizierbaren Objekt. Die Figur stammt aus der Sammlung Carl Waldemar Werthers, der als Leiter der Nachrichten-Expedition der deutschen Streitkräfte am „Boxerkrieg“ (1900/01) in Ostasien teilnahm. In einem Brief an Karl von Linden berichtete Carl Waldemar Werther freimütig, dass er die aus Tibet stammende Figur aus dem Tempel der 10.000 Buddhas in der Pekinger Kaiserstadt geplündert habe. Er setzte hinzu, dass ein Thronbuddha den Kopf verloren habe, wie auch viele Chinesen dort.
Der Rassismus der damaligen Zeit äußerte sich unter anderem in den Völkerschauen, die auch in Stuttgart zu den populären Unterhaltungsformaten gehörten. Himmelsbach und Wegmann konnten für die Zeit zwischen 1857 und 1930 Belege für knapp dreißig solcher Veranstaltungen finden, bei denen auch Menschen aus Lappland, Indien oder Nordamerika zur Schau gestellt wurden.
Wie aber die Macht des Blicks darstellen, den Mechanismus von Betrachtern und Betrachteten aufheben? In Stuttgart ist nicht nur eine Aufnahme von einer Völkerschau in Lamellentechnik wandfüllend präsent. Ihr komplementär gesetzt ist eine Fotografie der damaligen Schaulustigen, die nun ihrerseits zum Objekt der Beobachtung werden.
Die Ausstellung stellt sich zur Diskussion
Ob solche Strategien der Umkehrung funktionieren, sollen die Besucher*innen entscheiden. Die Werkstatt-Ausstellung stellt sich am Ende der Schau selbst zur Diskussion. Jeder kann in die bereitstehenden Laptops schreiben, was er denkt. Soll das Linden-Museum weiterhin den Namen des Gründers tragen? Sollen Straßennamen umbenannt werden? Die Konrad-Adenauer-Straße vielleicht?
Der spätere Bundeskanzler war laut Recherche des Linden-Museums in den Jahren 1931 bis 1933 stellvertretender Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft. Oder die Mauser-Straße, denn die Firma Mauser & Co aus Oberndorf stattete die Kolonialtruppen mit Gewehren aus? Wahrscheinlich muss im Einzelfall entschieden werden.
In Stuttgart jedenfalls dürfte nach dieser historischen Tiefenbohrung das „schwierige Erbe“ nicht mehr zu ignorieren sein. Die Fülle und Brisanz des Materials zur Geschichte des Linden-Museum wie auch das innovative und sprachsensible Konzept der Vermittlung machen deutlich, auf welcher Grundlage sich Institutionen erneuern können.
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