Delegationsreise nach Namibia: Restitution als Chance
Die Namibia-Initiative Baden-Württembergs setzt neue Maßstäbe im Umgang mit dem Kolonialismus: auf Delegationsreise mit Ministerin Bauer.
Windhoek/Gibeon/Hornkranz taz | Ein Hochplateau knapp 200 Straßenkilometer südwestlich von Windhoek entfernt. Rote Erde, helle Steine. Der Weg dorthin führt über unasphaltierte staubige Pisten. Buschland, nur vereinzelt Bäume, dafür sehr viel Sonne und der weite namibische Himmel. Auf nicht gekennzeichneten Feldwegen geht es schließlich die letzten Kilometer nach Hornkranz, einem Ort mit dramatischer Bedeutung für die deutsch-namibische Geschichte.
Es ist früher Nachmittag, als die Regierungsdelegation aus Baden-Württemberg in drei Fahrzeugen mit ihrer namibischen Begleitung auf dem Hochplateau in Hornkranz eintrifft. Das Thermometer zeigt 38 Grad im Schatten. An der Spitze der Delegation aus Stuttgart steht Ministerin Theresia Bauer, auf dem Kopf einen hellen Panama-Hut.
Die Wissenschafts- und Kunstministerin will zusammen mit ihren namibischen Gesprächspartner*innen jene Stätte besichtigen, die die deutsche „Schutztruppe“ 1893 verwüstete. Was findet sie vor? Zunächst wenig Hinweise auf das Geschehene. An der höchsten Stelle des Plateaus steht heute eine Farm. Deren mehrere Handvoll Bewohner*innen begrüßen den hohen Besuch aus Windhoek und Stuttgart mit zurückhaltender Freundlichkeit. Ein Brunnen, Kakteen, frei laufende Hühner und Schafe. Im Schatten eines Baums dösen zwei Kühe. Die extremen klimatischen Bedingungen lassen kaum mehr als eine extensiv betriebene Viehwirtschaft zu.
Um das Gehöft eine Umzäunung zum Schutz vor Leoparden und anderen Raubtieren. Davor steht ein weiß gestrichener Betonsockel, der eine eiserne Tafel mit deutscher Inschrift trägt: „Hornkranz 12. 4. 1893. Erstes Gefecht zwischen der deutschen Schutztruppe und den Hottentotten Hendrik Witboois“.
Darunter der Text noch einmal auf Afrikaans und Englisch. Frau Bauer und ihre baden-württembergische Delegation scheinen irritiert. Warum „Hottentotten“? Warum auf Deutsch, Afrikaans und Englisch? Die sie begleitende Historikerin und Militärexpertin Susanne Kuß aus Freiburg kann Auskunft geben. Der Gedenkstein muss während der südafrikanischen Mandatszeit nach 1914/15 errichtet worden sein. Mit Ende des Ersten Weltkriegs kam Deutsch-Südwestafrika offiziell ab 1920 unter die Verwaltung des südafrikanischen (Apartheid-)Regimes, erlangte erst 1990 als Staat Namibia die nationale Eigenständigkeit. Das heute als Farm dienende Gebäudeensemble in Hornkranz wurde während der Mandatszeit als Polizeistation erbaut.
Ein menschenleer wirkendes Buschland
Eine Polizeistation, scheinbar im Niemandsland. Der Blick vom Hochplateau in Hornkranz schweift über ein menschenleer wirkendes Buschland und endet bei einigen braunen Bergrücken in weiterer Entfernung. Die Ministerin nickt nachdenklich. Mehr Gedenken ist hier nicht?
Ida Hoffmann, eine prominente Nama-Politikerin, schüttelt den Kopf. Die Europäerin Theresia Bauer, geboren 1965, ist Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg im Kabinett Winfried Kretschmann. Die Afrikanerin Ida Hoffmann, geboren 1947, hat in den 1980er Jahren in der Swapo für die Befreiung des Landes gekämpft. Sie gehört zu der Bevölkerungsgruppe der Nama, die ebenso wie die Herero heute eine Minderheit in der von den Ovambo dominierten namibischen Gesellschaft bilden. Frau Hoffmann ist zudem Vorsitzende des Nama Genocide Technical Committee (NGTC).
Interdisziplinäre Vernetzung
Das Land Baden-Württemberg will die Geschichte der Kolonialzeit stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken. In einer ersten Tranche stellt es dafür 1,25 Millionen Euro zur Verfügung. Die baden-württembergischen Archive und Museen sind angewiesen mit Historikern der Universitäten ihre Bestände – pro-aktiv – zu überprüfen.
Postkolonialer Austausch
Eine interkontinentale Kooperation mit namibischen Partner*innen auf Universitäts- wie Archivebene ist angelaufen. Auch das Literaturarchiv in Marbach sowie die Akademie Schloss Solitude mit einem Residenzprogramm sind dabei involviert.
Sie führt Frau Bauer auf die Rückseite der heutigen Farm und früheren Polizeistation. Die beiden Frauen stehen nun auf den letzten Überresten der Fundamente einer von Kaptein Hendrik Witbooi und seiner Nama-Gruppe vor 1893 errichteten und dann von den Deutschen zerstörten Kirche. Hier findet sich eine weitere Gedenktafel auf einem Steinsockel. Sie erinnert an eine Feier, die die namibische Regierung zusammen mit den Nachfahren Hendrik Witboois im Jahre 1997 in Hornkranz abhielt, also acht Jahre nach der Befreiung von den Südafrikanern.
Zwei schlichte Gedenktafeln
Auf der Vorder- und Rückseite des Gebäudes zwei schlichte Gedenktafeln, das war’s. So sieht er also aus, der Ort, um den sich viele Legenden ranken. An dem die kaiserlich deutsche Kolonialpolitik mit dem Massaker vom 12. April 1893 ihren verhängnisvollen Lauf nahm, das den Auftakt zum Genozid an Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 markiert. Hornkranz war 1893 der nördlichste Stützpunkt der Nama-Gruppe unter Leitung von Kaptein Hendrik Witbooi. Bis zu 2.000 Menschen sollen hier gelebt haben.
Witbooi drängte kriegerisch und expansiv nach Norden ins Herero-Gebiet. Er ordnete sich dabei auch nicht den Direktiven der Deutschen unter. Am 12. April 1893 gelang es dem damaligen Kommandeur der „Schutztruppe“ Curt von François, die Witbooi in Hornkranz militärisch zu überraschen. Kaptein Witbooi konnte zwar mit dem Großteil seiner Männer entkommen. Doch François’ „Schutztruppe“ metzelte – entgegen den bisherigen Weisungen aus dem kaiserlichen Berlin – auch viele der zurückgelassenen Frauen und Kinder nieder.
Der mit Blaulicht geleitete Konvoi stoppt in Rehoboth und Mariental
Die Nama unter Witbooi reagierten mit einem eineinhalb Jahre dauernden Guerillakrieg. Erst die Ablösung François’ durch den Gouverneur Theodor Leutwein bewegte Kaptein Witbooi zu einem neuerlichen Friedens- und Kooperationsabkommen mit den Deutschen.
Hinter dem Hornkranz-Farmhaus, der alten Polizeistation, ist der Hang leicht abschüssig. Einige hundert Meter weiter befinden sich zwei deutsche Soldatengräber. Sie liegen verdeckt in einer Senke, oberhalb eines ausgetrockneten Flussbettes. Metallenes Eichenlaub ziert die eisernen Grabtafeln der beiden 1893 gefallenen Deutschen. „Sargeant Louis Wrede geb. 2. März 1868 gest. 2. Okt. 1893“ und der „Gefreite W. Sakolowski geb. 14. Sept. 1869 gest. 12. April 1893“. Das Doppelgrab ist mit weißen Steinen bedeckt, die in der Sonne glitzern. Ein namibischer Begleiter sagt, es sei noch zu heiß für die Schlangen. Sie kommen erst nachts heraus.
Ein paar Schritte davon entfernt zeigt Ida Hoffmann auf ein paar kaum wahrnehmbare Unebenheiten und Steine. Hier sollen die 84 Opfer des deutschen Überfalls 1893 verscharrt worden sein. Hellbrauner, sandiger Boden, Felsen, karges Gestrüpp. Gräber sind kaum zu erkennen, Erinnerungstafeln erst recht nicht. Frau Bauer ist sichtlich berührt. Sie äußert gegenüber Frau Hoffmann ihr Bedauern, entschuldigt sich im Namen der baden-württembergischen Landesregierung für das, was die Deutschen 1893 hier anrichteten.
Wechselnde Bündnisse
Kaptein Hendrik Witboois Nama-Gruppe war vor allem mit den weiter nördlich lebenden Herero verfeindet. Mit dem, was Deutsche und ihre verbündeten afrikanischen Soldaten hier taten, rechneten sie nicht. Die Witbooi waren im 19. Jahrhundert aus der Kapprovinz ins heutige Namibia eingewandert und hatten 1863 zunächst Gibeon zu ihrem Hauptsitz erkoren. Hendrik Witbooi, evangelisch sozialisiert, pflegte seine Macht- und Expansionsbestrebungen mit der Bibel zu begründen – und selber kraft des Gewehrs durchzusetzen. Eine im biologistischen Sinne ethnisch oder kulturell reine Herkunft war gerade für das südliche Afrika schon damals eine pure Fiktion. So wie die menschlichen Herkünfte waren auch die Bündniskonstellationen wechselnd und gemischt.
Als die Herero sich 1904 gegen die immer habgierigere Landnahme der immer rassistischer auftretenden deutschen Kolonialisten erhoben, kämpfte Kaptein Witbooi mit seinen Leuten zunächst auf Seite der Deutschen. Erst deren völkermörderische Brutalität gegenüber den Herero veranlasste ihn seinerseits, erneut in den Aufstand zu treten. Im Gefecht wurde er 1905 tödlich verwundet. Der genozidalen Kriegsführung des Generalleutnants Lothar von Trotha fielen von den etwa 80.000 Herero 60.000 zum Opfer, auf Seiten der Nama sollen es um die 10.000 Todesopfer gewesen sein. Bislang wurde der Völkermord von Deutschland nicht offiziell anerkannt, Klagen sind anhängig und viele Objekte, darunter menschliche Gebeine, befinden sich noch in den Archiven deutscher Institutionen.
Das Fernsehen überträgt live, als der Präsident in Gibeon spricht
„Niemand von uns dachte“, sagt Frau Hoffmann zu Frau Bauer am 1. März 2019 in Hornkranz, „dass der Tag kommen würde, wo wir hier zusammen stehen.“ Und weiter: „Es liegt in Ihrer Verantwortung, sich und Ihre Landsleute besser zu informieren, zurückzukommen nach Namibia, um uns und unserer gemeinsamen Geschichte den nötigen Respekt zu erweisen, damit wir zusammen eine neue Perspektive gewinnen können.“ Worauf ihr Frau Bauer versichert: „Alle Institutionen in Baden-Württemberg kriegen einen Brief von mir. Sie müssen von sich aus aktiv werden und wie das Linden-Museum ihre Sammlungen durchforschen, die Erwerbskontexte offenlegen und selbstverständlich sämtliche menschlichen Gebeine restituieren.“
Beim Überfall auf Hornkranz 1893 erbeuteten die deutschen Truppen auch die Bibel und die Peitsche Hendrik Witboois. Die beiden Objekte gelangten 1902 als Schenkung ins Stuttgarter Linden-Museum. Dort wurden sie 2007/08 ausgestellt, anlässlich der Sonderausstellung „Von Kapstadt bis Windhoek: ,Hottentotten' oder Khoekhoen? Die Rehabilitierung einer Völkergruppe“. Und nun ein weiteres Mal zum Jahreswechsel vor der Rückgabe von Bibel und Peitsche nach Namibia.
Nicht auf den Bund warten
Ministerin Bauer hatte da längst mit ihrer Staatssekretärin Petra Olschowski sowie der Leiterin des Stuttgarter Linden-Museums, Inés de Castro, (und mit Rückendeckung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann) beschlossen, auf ein entsprechendes Ersuchen Namibias von 2013 einzugehen und nicht länger auf Bundesdirektiven zu warten. Historiker der Universität Tübingen unterstützen dabei „die sammelnden Zünfte“ (Bernd Grewe) im Linden-Museum bei der Aufarbeitung ihrer Bestände.
Wie richtig die Stuttgarter mit ihrer sorgfältig vorbereiteten Namibia-Initiative liegen, deutet sich gleich bei der Ankunft am Flughafen in Windhoek letzte Woche an. Die Präsidentengarde steht Spalier, roter Teppich auf dem Rollfeld. Zur Begrüßung der Delegation und Empfangnahme der mitgeführten Objekte (Witbooi-Bibel und -Peitsche) sind Bildungsministerin Katrina Hanse-Himarwa und Vizepräsident Nangolo Mbumba um 6 Uhr morgens erschienen. Eine bewegende Stimmung. Blitzlicht, Gesänge, Gebete. Im Flughafengebäude spielen eine Militärkapelle sowie die Brass-Band der Witbooi aus Gibeon auf.
Namibia ist eine junge Nation, mit großen regionalen Unterschieden. Von der Fläche eineinhalb mal größer als Deutschland, hat das Land nur gut 2,3 Millionen Einwohner*innen. Der Staat ist zwar demokratisch verfasst, doch seit 1990 regiert ununterbrochen die Swapo. In Restitutionsangelegenheiten muss man da schon sehr genau hinschauen und eng mit den Betroffenen vor Ort zusammenarbeiten, will man nicht lokale Konflikte befeuern. Denn auch wenn sich das Konterfei Hendrik Witboois auf namibischen Geldscheinen findet und diesem eine zentrale Stellung im auf den antikolonialen Kampf fußenden Nationalmythos Namibias zugewiesen wird, so fühlen sich Nama und Herero von der regierenden Swapo nicht unbedingt und nicht immer gut repräsentiert. Die Swapo werde von den Ovambo dominiert, so die Kritik, Chancen und Reichtümer im Land ungleich verteilt.
Vizepräsident Mbumba berücksichtigt solche Sensibilitäten, als er am Nachmittag beim Empfang im alten Staatshaus in Windhoek betont, dass dies heute „der Tag der Witbooi“ sei – und nicht der der Regierung.
Auch die Baden-Württemberger wissen, wie bedeutsam es für nationale Minderheiten wie die Nama ist, dass die alte Bibel und (Vieh-)Peitsche des legendären Anführers zunächst durch ihre Hände und erst danach ins Nationalarchiv nach Windhoek wandert. Und so bricht der baden-württembergische Tross am übernächsten Tag nach Gibeon auf, dem historischen Hauptort der Witbooi im Süden.
Auf der 340 Kilometer langen Strecke wird der mit Blaulicht geleitete Konvoi Stopps in Rehoboth, Kalkrand und Mariental einlegen. Dort warten jeweils Hunderte von Schüler*innen in der Hitze, um an Peitsche und Bibel vorbei zu defilieren. Ministerin Hanse-Himarwa ist immer zugegen sowie Abordnungen der Witbooi.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Beim Stopp in Mariental spielt die Brass-Band aus Gibeon eine wunderbar schräge Variante des Deutschlandlieds.
Die eigentliche Übergabe-Zeremonie findet am 28. Februar in dem 3.000 Einwohner*innen zählenden Dorf Gibeon statt, bis heute Zentrum der Witbooi. Alles, was Rang und Namen im Machtgefüge Namibias hat, ist hierher in die tiefe Provinz gereist. Riesige weiße Zelte sind zum Schutz gegen die Sonne aufgebaut, um die 3.000 Personen werden zum Festakt erwartet.
Gründungsvater der namibischen Nation
Sam Nujoma, der 1929 geborene frühere Swapo-Chef, macht einen rüstigen Eindruck. Ministerin Hanse-Himarwa begrüßt ihn über die Mikrofonanlage als „Gründungsvater der namibischen Nation“. Die Menge singt nacheinander die namibische und afrikanische Hymne, ebenso das der Delegation seit der Ankunft auf dem Flughafen immer wieder begegnende Preislied auf Kaptein Witbooi.
Das namibische Staatsfernsehen überträgt live, als der amtierende Präsident Hage Geingob spricht. Inés de Castro sowie Theresia Bauer überreichen Nama-Repräsentantinnen die Witbooi-Bibel und -Peitsche und halten sie zusammen mit Präsidenten Geingob in die Kamera. Hanse-Himarwa bittet Inés de Castro spontan zu einer Stellungnahme vor der Menge. Und auch Reinhart Kößler wird nach vorne gebeten und geehrt. Der deutsche Soziologe und Historiker hat über Jahrzehnte entscheidend zum deutsch-namibischen Dialog beigetragen.
Wie bei den Gesprächen in Windhoek und Hornkranz kündigt Ministerin Bauer weitere Initiativen aus Baden-Württemberg an, Austauschprogramme und Wissenstransfers. „Wir können nicht ungeschehen machen, was passiert ist. Aber wir können dafür Sorge tragen, dass es nicht vergessen wird und ein Ausgleich stattfindet.“
Der Autor dankt der baden-württembergischen Landesregierung für die Unterstützung bei Reise und Recherche.