„Es wird gelebt, geliebt, gefeiert, auch gestorben“

Das Kieler Wohnprojekt „Maro Temm“ bietet Sinti-Familien ein Zuhause

Von Esther Geißlinger

Auch Wunder werden im Laufe der Zeit zu Normalität: In Kiel haben die Sin­ti*z­ze wirklich ihren eigenen Ort bekommen. Im Mai 2007 wurde der Grundstein für die Siedlung „Maro Temm“ gelegt, im Herbst zogen die ersten Sinti-Familien in die Reihenhaussiedlung am Rand des Kieler Stadtteils Gaarden ein. Maro Temm war das europaweit erste Projekt seiner Art, ein Modell, ein „Leuchtturm“. Heute „ist hier alles normal, es wird gelebt, geliebt, gefeiert, manchmal auch gestorben – wie überall“, sagt Rolf Ulrich Schlotter, Sprecher des Landesverbandes der Sinti und Roma in Schleswig-Holstein. „Aber ein Modellprojekt ist es bis heute.“

Lange war „Unser Platz“, so die Übersetzung von „Maro Temm“,umstritten. Die Idee kam bereits Anfang der 1990er-Jahre auf, aber es dauerte, bis die Finanzierung stand, zudem tat sich der Stadtrat schwer, einen Bauplatz für die Siedlung bereitzustellen.

Als 2004 das heutige, rund 10.000 Quadratmeter große Gelände auf einer Industriebrache gefunden war, äußerte die damalige CDU-Bürgermeisterin Angelika Volquartz die verdruckste Sorge, die „Integrationskapazität des Problemstadtteils“ Gaarden reiche nicht aus. Die Folge war ein bundesweiter Medien-Shitstorm. „Regieren hier die alten Vorurteile gegenüber den,Zigeunern’?“, fragte damals die FDP im Kieler Landtag, Ministerpräsidenten Heide Simonis (SPD) schaltete sich ein. Am Ende lenkte die Stadt ein und stellte dem Landesverband das Grundstück auf Erbpacht zur Verfügung.

Finanziert wurde das Projekt, das als Genossenschaft organisiert ist, durch Eigenkapital der Familien, private Spenden, unter anderen von der „Stiftung zugunsten des Roma-Volkes“, die von Günter und Ute Grass gegründet wurde, und öffentliche Mittel von Stadt und Land. Der Hauptteil der Kosten, rund 1,5 Millionen Euro, war ein Darlehen des Landes aus dem allgemeinen Wohnraumförderprogramm. Die Höhe kam vor allem deshalb zustande, weil der Baugrund, ein ehemaliger Müllplatz, ausgebaggert und gesäubert werden musste. Einen finanziellen Rückschlag und Negativ-Schlagzeilen durchlebten die Projekt-Verantwortlichen im Jahr 2006, als herauskam, dass ein Vorstandsmitglied Gelder veruntreut hatte. Doch die Spender blieben bei der Stange, das Projekt lief weiter.

Die Siedlung soll den Sinti einen Schutzraum bieten, in dem sie ihre Kultur leben und ihre Sprache sprechen können. Abgeschottet sein soll sie aber nicht: In den Zeiten vor Corona luden die Be­woh­ne­r:in­nen der Siedlung die Nachbarschaft regelmäßig zum Stadtteilfrühstück ein: „Das hilft beim gegenseitigen Kennenlernen“, sagt Schlotter. „Mit einem Brötchen und einer Tasse Kaffee in der Hand sind alle locker.“

Auch wenn die lange Frühstückstafel in Pandemiezeiten fehlen muss, andere Projekte und Angebote laufen weiter, darunter die Bildungsberater:innen, zurzeit rund ein Dutzend Sin­ti:z­ze und Rom:nja, die Kinder der Minderheit in die Schule begleiten, sofern Präsenzunterricht stattfindet, oder sie beim Lernen zu Hause unterstützen. Neuerdings stehen dafür Tablets zur Verfügung. „Die Digitalisierung schreitet voran, wir dürfen uns da nicht ausschließen“, sagt Schlotter.

Bildung für die nächste Generation und die Chance, sich in beiden Kulturen zurecht zu finden, ohne zu viel von ihrer Identität aufgeben zu müssen, sei ein wichtiges Ziel der „Maro Temm“-Genossenschaft, heißt es auf der Homepage des Landesverbandes.

Rund 600 Sin­ti:z­ze gehören zur Minderheit, die bereits seit dem 15. Jahrhundert in Schleswig-Holstein ansässig ist. 2012 wurde die Gruppe offiziell anerkannt und damit den Dänen und Friesen gleichgestellt. Romanes ist damit eine der offiziellen Landessprachen Schleswig-Holsteins geworden.

Aktuell bezieht ein großer Teil der Sinti Sozialleistungen, unter den Älteren gibt es immer noch zahlreiche Analphabeten – eine Folge der Jahrhunderte dauernden Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft und das Misstrauen der Sin­ti:z­ze gegenüber Behörden und Staat.

Allmählich aber würde es besser, sagt Schlotter: „Wir sind auf dem richtigen Weg, wenn auch nicht am Ziel.“