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Der mythische Lauf

Vor 125 Jahren fand der erste Olympia-Marathon statt. Darüber wurde viel geschrieben. Fast vergessen ist der erste Frauen-Marathon, einen Tag später

Über Staub und Stein: Der Grieche Charilaos Vasilakos (M.) mit zwei Landsleuten auf der Strecke Foto: imago/Ane Edition

Von Martin Krauss

Stamata Revithi, eine 30-jährige Frau aus Piräus, hatte Probleme, ihre zwei Kinder, eins 17 Monate, das andere 7 Jahre alt, zu ernähren. Ein paar Tage vor dem offiziellen Marathonlauf traf sie einen Läufer beim Training. Der sagte ihr, der beste Weg für arme Leute, reich zu werden, sei der Marathonlauf. Revithi wollte sich anmelden, doch beim Organisationskomitee beschied man ihr, dass Frauen nicht mitlaufen durften. Am 11. April 1896 war sie im Dorf Marathon, ließ sich vom Bürgermeister ihre Startzeit beglaubigen, lief dann 40 Kilometer über schlechte Wege, teils an der Küste entlang. In Athen ließ sie sich von einem Polizisten ihre Ankunftszeit beglaubigen. Fünfeinhalb Stunden hat sie offiziell gebraucht. Ihre Unterlagen legte sie dem griechischen Olympiakomitee vor, damit man dort ihr Talent erkenne und sie fördere. Es passierte freilich nichts.

Auch Carlo Airoldi kannte das Büro des Athener Olympiakomitees. Der Sport des italienischen Arbeiters hieß Pedestrianismus, war im 19. Jahrhundert populär und vereinigte Gehen und Laufen. In seinem Dorf in der Lombardei hatte er von dem Groß­ereignis in Athen gehört, und Meriten hatte Airoldi schon: 1895 hatte er etwa das über mehr als tausend Kilometer und zwölf Etappen führende Mailand-Barcelona-Rennen gewonnen und dafür 2.500 Peseten erhalten. Um zu Olympia zu gelangen, machte sich Airoldi von Mailand aus zu Fuß nach Athen: 28 Tage brauchte er, nach 20 Tagen war er in Kroatien und setzte mit dem Schiff über. Als er in Athen ankam, wurde er schnell zum griechischen Kronprinzen Konstantin geleitet, dem Präsidenten des Olympiakomitees. „Seine Hoheit fragte ihn nach den Rennen, die er bereits absolviert hatte und ob er jemals Geldpreise erhalten hatte“, so berichtete es die italienische Zeitung La Bicicletta, mit der Airoldi einen Vertrag hatte: Der Läufer berichtete dort von seinen Erlebnissen. Airoldi antwortete freimütig, und der Prinz erklärte ihm, dass er dann nicht am Marathon teilnehmen durfte. Er sei ein Profi.

Für Airoldi brach eine Welt zusammen. Der Marathonlauf war das ganz große Event dieser Olympischen Spiele. Prinz Konstantin hatte dessen nationale Bedeutung früh erkannt. Zwei Sichtungsrennen hatte es im März gegeben, wo sich die Besten qualifizieren konnten. Airoldi berichtete in La Bicicletta: „Hier wollten sie um jeden Preis, dass der Sieger des Marathon-Athen-Rennens ein Grieche ist.“ Nur 4 der 18 Läufer am Start kamen nicht aus Griechenland.

Als der Sieger Spiridon Louis ins mit über 70.000 Zuschauern gefüllte Stadion kam, wurde der Stabhochsprungwettbewerb unterbrochen. Kronprinz Konstantin und König Georg stürmten auf Louis zu und begleiteten ihn auf den letzten Metern. Außer einem Ungarn waren die neun Bestplatzierten alle Griechen. Als Königin Olga erfuhr, dass der Sieger ein einfacher Arbeiter ist, soll sie ihm die Ringe, die sie an ihren Fingern trug, geschenkt haben. „Die Ehre, die Sie Griechenland haben zukommen lassen, ist weit mehr wert als diese einfachen Ringe.“ Vom König bekam Louis noch ein Pferd und einen Wagen, dazu noch 25.000 Drachmen, von einem Schumacher Schuhe, von einem Schneider Kleidung, und ein Friseur bot ihm an, ihn ein Jahr lang kostenlos zu rasieren. Und er erhielt einen Silberpokal.

Vom König bekam Louis ein Pferd und einen Wagen, dazu noch 25.000 Drachmen

Den hatte Michel Bréal gestiftet. Der war ein guter Freund von Baron Pierre de Coubertin, Begründer der Olympischen Spiele. Geboren war Bréal 1832 als Michael Julius Alfred Breal in Landau in der Pfalz. Er stammte aus einer jüdischen Familie. Als der Vater früh starb, zog die Mutter ins französische Metz und verschaffte ihrem Sohn eine Ausbildung an der École normale supérieure in Paris. Als Philologe entwickelte er die Semantik mit und war Gastgeber in französischen Salons. Auch der spätere Literaturnobelpreisträger Romain Rolland, der sein Schwiegersohn werden sollte, verkehrte dort.

Als Bréal von Coubertins Idee hörte, erinnerte er sich an den Mythos: Ein griechischer Soldat sei 490 v. u. Z. nach dem Sieg über die Perser in das etwa 40 Kilometer entfernte Athen gelaufen, habe die Siegesbotschaft verkündet und sei tot zusammengebrochen. Einen solchen Lauf zu wiederholen, schrieb Bréal an Coubertin, „das hätte einen antiken Geschmack“. Coubertin soll gezögert haben, denn der Tod eines Läufers würde sein Fest vielleicht nicht so populär machen. Daher bekam Spiridon Louis auch keine Medaille, sondern den unüblichen Silberpokal, damals der unattraktivste Preis. Aber 2012, in der griechischen Finanzkrise, versteigerten Louis’ Nachfahren den Pokal bei Christie’s für etwa 650.000 Euro.

Airoldi gelang es nie, Louis herauszufordern, Bréal starb 1915 und liegt auf dem Friedhof von Montparnasse. Und den olympischen Marathon für Frauen gibt es erst seit 1984.

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